Rechenspenden für die Wissenschaft
Die Wissenschaft will viel, aber sie hat zu wenig Geld. Diese Eigenschaft teilt sie mit den meisten von uns, aber da die Wissenschaft über viele helle Köpfe verfügt, weiß sie, wie man aus der Not eine Tugend macht. BOINC - ein Projekt zu verteilten Rechenspenden im Selbstversuch.
Gegenüber der Wissenschaft verhalte ich mich wie ein dauerhaft unglücklich Verliebter: Ich mag sie, aber ich verstehe so wenig von ihr. Kaum ein Tag vergeht, ohne dass ich mir wünsche, in Biologie, Physik, Chemie besser aufgepasst zu haben, und die Nutzlosigkeit dieses Wunschs ändert nichts an der Persistenz. Wie kann ich ihr näher kommen, der Wissenschaft?
Natürlich lese ich Bücher, Zeitschriften etc., ich habe den Hubblecast abonniert und bin ein begeisterter Konsument der TED-Talks.
Zum Autor:
Marcus Hammerschmitt, geboren 1967, ist Schriftsteller und Journalist. Einmal im Monat verfasst er für futurezone.ORF.at einen Bericht zum Zustand der Zukunft. Veröffentlichungen (Auswahl): "Target" (Suhrkamp 1998), "Instant Nirwana" (Aufbau 1999), "Polyplay" (Argument 2002), zuletzt: "Der Fürst der Skorpione" (Sauerländer 2007) und "Yardang" (Sauerländer 2010).
Man will ja schließlich auch einmal etwas sagen auf einer Party, gegebenenfalls sogar mit ein paar geschickt gestreuten Begriffen beeindrucken können. Aber selber etwas zur Wissenschaft beitragen, das wäre auch nicht verkehrt.
BOINC, die Internet-Plattform für verteiltes wissenschaftliches Rechnen, ist eigentlich ganz gut erklärt, wenn man sagt, dass Wissenschaftler ein großes Problem erkennen und dieses Problem potenziell allen Rechnern, die ans Internet angeschlossen sind, zur Berechnung übergeben. Potenziell, weil natürlich nicht alle mitmachen.
Das muss auch gar nicht sein, weil man nur ein bisschen Rechenkraft von vielen Rechnern braucht, um das Werk anzugehen. Und zwar die Rechenkraft, die von diesen Rechnern eigentlich gar nicht gebraucht wird, weil sie von ihren Besitzern nicht ausgelastet werden oder gar ganz im Leerlauf sind. Das sind moderne PCs erstaunlich oft, und zusammen mit der Tatsache, dass viele dieser Rechner rund um die Uhr über Breitbandverbindungen ans Internet angeschlossen sind, ergibt sich ein formidabler Pool an Computing Power, der brachliegt.
Wissenschaftler, die mit BOINC arbeiten, wissen, dass Kleinvieh auch Mist macht, und würden diesen Mist gern für sich nutzen. Für den Freiwilligen, der von der brachliegenden Rechenkraft seines Internet-fähigen Rechners spenden will, sieht das folgendermaßen aus: Er lädt sich das BOINC-Programm herunter, sucht sich eines oder mehrere der Projekte aus, die mit BOINC bewältigt werden sollen, und konfiguriert das Programm seinen Bedürfnissen entsprechend.
Wie viel der Rechenleistung seines Computers er wie oft abtritt, ist allein seine Entscheidung. Man muss kein Wissenschaftler sein, um das hinzubiegen, und das ist auch der Witz an der Sache - Laien lassen ihre Rechenknechte Wasserträger für andere sein. Natürlich ist es nur von Vorteil, wenn man wenigstens im Ansatz versteht, worum es sich bei den verschiedenen Projekten wirklich dreht. Und es gibt auch noch ein paar andere Kriterien, die nicht ganz unwichtig sind.
Beschreibt das Projekt seine Ziele eindeutig? Sind diese Ziele wichtig und nützlich? Haben die Macher Resultate publiziert? Vertrauen Sie der Sicherheitsphilosophie des Projekts? Wem werden die Berechnungsresultate gehören? Werden sie der Öffentlichkeit frei zugänglich sein oder Privateigentum einer Firma werden?
Naturgemäß wird BOINC auf Probleme angesetzt, die extrem rechenintensiv sind, teilweise so rechenintensiv, dass sie ohne verteiltes Rechnen nur schwer oder gar nicht in Angriff genommen werden könnten. Ein Musterbeispiel ist seti@home, das wie alle anderen SETI-Projekte nach Intelligenz in den elektromagnetischen Signalen sucht, die man aus dem Weltall empfangen kann.
Das Projekt gab es schon, bevor BOINC das Mitmachen beim verteilten wissenschaftlichen Rechnen so kinderleicht machte. Heute hat seti@home drei Millionen Mitglieder, von denen 250.000 wirklich aktiv sind. Die bisher geleistete Rechenzeit beläuft sich auf 2,3 Millionen Jahre, und die durchschnittliche Gesamtrechenleistung aller teilnehmenden Rechner beträgt 700 Tera-FLOPS - durchaus beachtlich, wenn man bedenkt, das sich aktuelle Supercomputer im niedrigen einstelligen Peta-FLOP-Bereich bewegen.
Seti@home ist nicht allein geblieben, auch wenn die anderen Projekte kleiner sind. Es gibt welche, die sich um die Vorhersagbarkeit des Klimas bemühen, die den komplexen Faltungen von Proteinen auf der Spur sind (rosetta@home) oder die nach Pulsaren suchen (einstein@home). Rosetta@home ist ein Vorzeigeprojekt, weil seine Leistungen seit Jahren gut verifzierbar sind - 2007 wurde erstmals mit Hilfe von rosetta@home die dreidimensionale Gestalt eines Proteins aus seiner Aminosäurensequenz vorhergesagt.
Skurrilitäten wie das gemeinsame Knacken bisher nicht entzifferter ENIGMA-Botschaften aus dem Zweiten Weltkrieg gehören da schon eher in den Bereich "Hobby und Verschiedenes".
Alles schön und gut, aber was hat der einzelne Teilnehmer davon? Ziemlich wenig. Er bekommt für seine Spende "Credits", mit denen er sich nichts kaufen kann. Wenn BOINC aktiv wird, weil der teilnehmende Rechner anderweitig unbeschäftigt ist, werden manchmal Bildschirmschoner wach, die die Hintergrundrechnerei auf nette Weise visualisieren, und natürlich kann man, wenn man will, mit anderen darin wetteifern, wer die meisten FLOPS beisteuert.
Dafür, dass man keinerlei reale Gegenleistung bekommt, sind erstaunlich viele Menschen bereit, einen Teil der Kontrolle über ihren Computer anderen zu überlassen. Und dafür, dass die digitale Welt angeblich so unfähig zu Engagement und Empathie ist, wollen erstaunlich viele ihrer Bewohner gute Menschen sein. Natürlich, der Schuss könnte auch nach hinten los gehen.
Trotz aller guten Wünsche ist es ganz und gar nicht ausgeschlossen, dass eines oder mehrere dieser Projekte indirekt bei der Vernichtung der Welt mithelfen. Grundlagenforschung, sicher, aber Otto Hahn, Lise Meitner und Fritz Straßmann betrieben 1938 auch Grundlagenforschung, als sie den ersten Atomkern spalteten. Verglichen mit dem potenziellen Nutzen einer Forschung, die unter den Augen und mit der Hilfe so vieler stattfindet, ist dieses Restrisiko aber erträglich.
Stellt BOINC die Zukunft der Wissenschaft dar? Für die rechenintensiven Aspekte der Wissenschaft kann angenommen werden, dass BOINC und eventuelle Weiterentwicklungen zumindest einen Teil der Zukunft darstellen. Aber gibt es hier weiterreichende Aspekte? Es ist ein offensichtliches Merkmal unserer stets mehr vernetzten Welt, dass dem Fußvolk immer mehr Aufgaben zufallen, die früher Spezialisten zu erledigen hatten.
Diese Form der Beteiligungsdemokratie kann man bei Phänomenen wie der Open-Source-Bewegung und, was ihren negativen Aspekt angeht, bei dem Funktionieren moderner Bot-Netze beobachten, und sie ist nicht einmal auf die digitale Welt beschränkt - die Umschichtung der Steuerlast in Richtung Verbrauchssteuern zum Beispiel hat dazu geführt, dass in Deutschland die demokratischste aller Steuern, die Mehrwertsteuer, eine unmittelbar staatserhaltende Bedeutung erlangte.
Ob und, wenn ja, wann sich diese überraschende Realität der unmittelbaren Graswurzeldemokratisierung der Wissenschaft, der Politik, ja sogar der Geschichte (siehe enigma@home) in offenkundigen gesellschaftlichen Veränderungen niederschlägt, weiß keiner. Aber interessant ist die Sache schon.
Rückblick:
Erinnern Sie sich noch an die Kernfusion? Auch so ein Superduperding, das nie Wirklichkeit werden sollte, wie der Transrapid, das Atlantropa-Projekt und andere Wunder aus der Mottenkiste des technokratischen Größenwahns.
Gerade der Erfolg von BOINC könnte den Kernfusionären etwas erzählen über die Verteilung von Last und Risiko, stattdessen stecken sie endlos Gelder in eine obsolete Vision des energetischen Zentralismus - ein Konzept, mit dem man schon bei der herkömmlichen Kernenergie denkbar schlechte Erfahrungen gemacht hat. ITER, das Superduperfusionsprojekt der EU, droht jetzt aus Finanzierungsgründen komplett abzusaufen. Wenn das wahr wird: good riddance.
Ausblick:
Erneuerbare Energien hingegen setzen sich mehr und mehr durch, und zwar so, dass ein lustiges Problem immer drängender wird: Energie, mit der wir nicht wissen, wohin. Schon heute müssen in Deutschland nachts immer wieder Windturbinen abgeschaltet werden, weil ansonsten Kernkraftwerke abgeschaltet werden müssten, und der Schwachsinn dieser Situation wird bei unseren Nachkommen noch für viele Lachsalven und Flüche sorgen.
Wie wird das einst sein, wenn die Hausdächer standardmäßig nicht mehr rot, sondern blau sind? Wenn Sie sich gerade zufällig in der Nähe der Schwäbischen Alb aufhalten, fahren Sie mal hin, da sehen Sie nämlich die Zukunft. Jedes zweite Dach ist blau. Ich mochte die Farbe schon immer.
(Marcus Hammerschmitt)