© Bild: immobilien.net, Immobilien.net-App für A1

Smartphone-Boom schafft neue Wirklichkeiten

MOBIL
01.07.2010

Mit Augmented-Reality-Systemen lässt sich die reale Welt in Mobilcomputern erfassen und mit zusätzlichen Informationen versehen. Gerhard Reitmayr, Professor für Augmented Reality (AR) an der Technischen Universität (TU) Graz, zeigt im Gespräch mit ORF.at, wie AR-Technologien in Medizin und Industrie eingesetzt werden können. Mit dem Smartphone-Boom profitieren zunehmend auch Privatanwender von den Ergebnissen der AR-Forschung.

Reitmayr arbeitet an einer neuen Art des Sehens. Informationen aus dem Internet und Expertendatenbanken sollen mit Hilfe mobiler Computersysteme mit der Lebens- und Arbeitswelt der Menschen verknüpft werden und ihnen dabei helfen, sich schneller in der zunehmend komplexen Umgebung zurechtzufinden.

Neben der Medizin, in der eine Art "Röntgenblick für Chirurgen" geschaffen werden kann, lässt sich die neue Form der erweiterten Wahrnehmung auch in der Architektur, der Bauindustrie, der Konstruktion, Wartung und Reparatur, im Bereich der (Fußgänger)-Navigation, Werbung, Spiele und auch Tourismus- und Informationssystemen zunutze machen. "Man kann etwa als Architekt auf einer Baustelle herumgehen und sich die an Ort und Stelle geplanten Objekte auf einem Display ansehen", so Reitmayr.

Visualisierung von Leitungen und Rohren

Am Institut für Maschinelles Sehen und Darstellen (ICG) an der TU Graz arbeiten vier Professoren und 70 wissenschaftliche Mitarbeiter daran, die Entwicklungen im Bereich der Visualisierung, Computergrafik und AR voranzutreiben. Eines der Projekte beschäftigt sich etwa damit, verlegte Leitungen zu visualisieren. Im Rahmen des Projekts SMART Vidente arbeiten die Forscher mit österreichischen Energiebetreibern (wie Wien Energie und der Salzburg AG) zusammen daran, dass der Prozess der Leitungsauskunft durch eine entsprechende Visualisierung genauer wird.

"Die Infrastrukturbetreiber haben das Problem, dass immer wieder neue Löcher gegraben werden müssen, wenn neue Leitungen verlegt werden. Wenn man dabei die bestehende Leitung erwischt, wird es teuer. Mit GPS-Empfängern, die auf eine etwa zehn Zentimeter exakte Genauigkeit herankommen, und Computer Vision versuchen wir, diesen Prozess zu visualisieren", erklärt Reitmayr.

Computer Vision als Ergänzung

Computer Vision, also maschinelles Sehen, ermöglicht in diesem Fall, dass schnelle, kleine Bewegungen so exakt wie möglich erfasst werden. Das System hilft den Experten an Ort und Stelle dabei, präziser zu arbeiten und Schäden zu vermeiden. "Maschinelles Sehen funktioniert im Wesentlichen so, dass man Elemente im Bild wiedererkennt. Man entwickelt Algorithmen, die aus einem Bild markante Bereiche herausfinden. Zusammen bilden die Punkte eine Art Beschreibung des Bildes", so Reitmayr. Die Elemente, die für die Arbeit wichtig sind, werden vom System visuell hervorgehoben.

Ein anderes Projekt der TU Graz beschäftigt sich mit der Visualisierung von hydrologischen Daten. Zusammen mit dem Schweizer Lawinenforschungsinstitut in Davos wird die Visualisierung von Simulationsdaten im Feld erforscht, so dass Wissenschaftler künftig mögliche Vermurungen und Lawinenabgänge direkt an Ort und Stelle mit den lokalen Gegebenheiten vergleichen können.

Kommissionierung als weiteres Einsatzgebiet

Ein weiteres, industrienahes Einsatzgebiet für AR-Visualisierungen ist etwa die Kommissionierung. "Jemand bekommt eine Liste mit Teilen, geht durch das Lagerhaus und sammelt diese ein. Da ist es wichtig, möglichst wenige Fehler zu machen und trotzdem einen gewissen Durchsatz zu haben. Hier wird etwa an der TU München erforscht, ob man es mit AR-Visualisierungen schafft, die Fehlerrate zu verringern", so Reitmayr. Gerade in der Automobilbranche seien Lagerhäuser äußerst dynamisch, so dass diese Arbeit nicht gänzlich von Robotern erledigt werden könne, erklärt Reitmayr.

Bei diesen Anwendungsbeispielen werden allerdings jeweils individuelle Displays benötigt, um die erweiterte Realität entsprechend darzustellen. Um Kabelstränge und Rohrleitungen zu visualisieren, verwende man etwa ein Tablet mit einem Zwölf-Zoll-Bildschirm, so Reitmayr. "Langfristig geht die Entwicklung allerdings dahin, dass man das Display direkt vor dem Auge trägt. In diesem Fall wäre die Größe des Displays kein Thema mehr, weil es darum geht, dass das gesamte Blickfeld abgedeckt wird."

Derzeit gebe es allerdings lediglich Prototypen, so Reitmayr. "Es ist ein großes technisches Problem, das Bild zu vergrößern, ohne einfach noch mehr Displays rundherum zu setzen", erläutert der TU-Professor.

Mobilgeräte für Privatanwender

Bei Lösungen für Privatanwender stützt sich die Entwicklung der AR-Visualisierung derzeit auf Handheld-Geräte und Mobiltelefone. "Dieser Aspekt ist vor allem in den letzten zwei Jahren stark gewachsen. Wir entwickeln bereits seit 2005 auf PDAs, aber ein dermaßen rasanter Anstieg hat uns selbst überrascht", so Reitmayr. Hierzu wird zudem intensiv am Christian Doppler Lab für Handheld Augmented Reality geforscht.

Durch die rasante Verbreitung von Smartphones mit GPS-Fähigkeiten, Kamera und Kompass stieg die Zahl der AR-Anwendungen. So gab es Ende Mai bereits 71 AR-Apps im Android Market Place und etwa 350 in Apples iTunes-Store. 2009 wurden weltweit noch unter einer Million AR-Anwendungen heruntergeladen, für 2014 werden von Juniper Research bereits mehr als 400 Millionen Downloads prognostiziert.

Mehr zum Thema:

3-D-Modelle und nutzergenerierte Inhalte im Trend

Zwei der bekanntesten AR-Anwendungen für private Nutzer sind der Wikitude World Browser aus Salzburg und der niederländische Konkurrent Layar, die beide seit knapp einem Jahr für Android-Smartphones sowie iPhones verfügbar sind.

Das Salzburger Unternehmen Mobilizy hat ihr Portfolio zudem um Wikitude Drive, eine Navigationssoftware, mit der das von der Kamera aufgenommene Bild die Straße mit Zusatzhinweisen überlagert, erweitert. Die neuartige Navigationslösung aus Österreich wird in Kürze auf den Markt kommen.

Die Entwickler von Layar hingegen setzen künftig auf eine Zusammenarbeit mit dem Bilderkennungsspezialisten Kooaba, mit dem sie ein Konkurrenzsystem zu Googles Angebot Goggles erstellen wollen. Der Anwender kann mit der Kamera seines Smartphones einen Gegenstand erfassen, zu dem er Näheres in Erfahrung bringen möchte; die Software wird dann versuchen, den Gegenstand zu identifizieren und Zusatzinformationen aus dem Netz dazu bereitstellen. Weiters will Layar die soziale Komponente seines Systems stärken. So sollen User für ihre Freunde animierte 3-D-Objekte als Nachrichten oder Hinweise im virtuellen Raum hinterlassen können.

Reitmayr sieht beide Unternehmen mit ihren Entwicklungen im Trend: In Zukunft werde die Lokalisierung vermehrt bildbasiert erfolgen und AR-Anwendungen würden immer öfters an 3-D-Modelle angebunden und mit Web-2.0-Funktionen gekoppelt sein. Das sei auch ein spannendes Forschungsthema. "Es gibt uns die Möglichkeit, auch Endbenutzern die Möglichkeit zu geben, virtuelle Dinge zu erzeugen, und diese nicht nur zu visualisieren."

Gestaltung der eigenen Wohnung mit AR

Als Beispiel nennt Reitmayr das IKEA-Sofa, welches Nutzer von Mobilgeräten künftig in ihrer neuen Wohnung direkt am Handy in der erweiterten Realität platzieren könnten.

"Dafür brauche ich die Möglichkeit, dass ich herumgehen kann und weiß, wo ich im Raum bin, also die Positionsbestimmung. Zudem muss ich die Lichtverhältnisse kennen, damit ich das Sofa schön darstellen kann, sonst sieht es nur hingesetzt aus wie in einem Comic. Auch die Interaktion muss für den Nutzer einfach genug sein, sonst wird er es nicht verwenden", so Reitmayr.

Immobiliensuche und Werbung

Mit der AR-Anwendung "Reality Suche" gibt es zudem seit kurzem eine Lösung von Immobilien.net und A1 für die Immobiliensuche auf dem Markt. Hier genügt es, die Kamera des Smartphones auf die Wunschgegend zu richten, um passende Informationen wie Preis, Größe, Makler und Bauträger zum gesuchten Objekt zu erhalten. "Dadurch wird der große Stellenwert bei der Immobiliensuche - die Lage - neu definiert", so Markus Ertler, Geschäftsführer des Immobilien.net-Betreibers Eresnet.

Auch mobilkom austria und Telekom Austria zeigen sich von der neuen Technologie begeistert. "Es ist faszinierend, wie plötzlich Sternenbilder am Himmel und historische Details zu einem Gebäude sichtbar werden", so Marco Harfmann, Bereichsleiter Residential und Small Business Marketing bei einer Pressekonferenz in Wien. Der Hintergrund für das Interesse liegt klar auf der Hand: Mit AR lassen sich auch Werbebotschaften künftig einfacher integrieren. So wird im August etwa die A1-Gutscheinbox um eine AR-Ebene erweitert. Kunden können sich auf diesen Weg bestimmte Werbeangebote über das Smartphone direkt an Ort und Stelle anzeigen lassen.

X-Ray-Visualisierung als Herausforderung

Bei dieser Art von Anwendung ist bei der Gestaltung das Rendering besonders wichtig. Hier müsse man etwa klar vermitteln können, wenn beispielsweise ein Haus zwischen dem eigentlichen Objekt liege und dieses dadurch verdeckt werde, erklärt Reitmayr. Hier versuche man, dem Nutzer eine Art Röntgenblick zu bieten. "Ein einfaches Einfügen der Objekte wie in der Blend-Funktion von Photoshop funktioniert nicht, da man den Eindruck erhält, dass das Objekt lose davorschwebe. Stattdessen setzt man auf Fassadenelemente oder starke Kanten, die man erhalten möchte. Der Rest wird einheitlich transparent", so Reitmayr.

Während AR-Anwendungen in den Bereichen Industrie und Medizin noch einen längeren Forschungszeitraum vor sich haben, bis sie tatsächlich marktreif werden, treibt derzeit der Smartphone-Boom die Entwicklung von Lösungen für Endanwender stark voran.

Mehr zum Thema:

(futurezone/Barbara Wimmer)