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Zonenkunde mit Nanotech-Engeln

ZUKUNFT HEUTE
04.07.2010

Was wäre die zeitgenössische Science-Fiction ohne die Briten? Nicht viel, kann man getrost behaupten, denn Leute wie China Mieville oder Alastair Reynolds würden arg fehlen. Der schreibende Astronom aus Barry, Wales, belegt das mit seinem neuen Band "Terminal World" eindrucksvoll.

Die Zeit: irgendwann nach dem Ende der Menschheit - in dem Sinn, in dem Adorno es meinte, als er mit Bezug auf "Die letzten Tage der Menschheit" von Karl Kraus sagte, man müsse eigentlich die Gegenwart als Zeit nach dem Ende der Menschheit begreifen.

Der Ort: Spearpoint, ein Residuum humanoider Lebensformen, der beinah letzte Hort der, nun ja, Zivilisation. Denn wie soll man das richtig beschreiben, was da als Säule in den Himmel ragt, an der Basis 13 Meilen dick und bewohnt bis in eine Höhe von 50 Meilen? Eine wahre Speerspitze der Zivilisation ist es, nicht nur - wie üblich - von Geld- und Machtgier regiert, sondern auch durch zunächst undefinierte Kräfte vertikal in verschiedene Zonen mit je eigener Zivilisations- und Technologiestufe eingeteilt.

Zum Autor:

Marcus Hammerschmitt, geboren 1967, ist Schriftsteller und Journalist. Einmal im Monat verfasst er für futurezone.ORF.at einen Bericht zum Zustand der Zukunft. Veröffentlichungen (Auswahl): "Target" (Suhrkamp 1998), "Instant Nirwana" (Aufbau 1999), "Polyplay" (Argument 2002), zuletzt: "Der Fürst der Skorpione" (Sauerländer 2007) und "Yardang" (Sauerländer 2010).

Arroganz von oben

Technologie, die in der einen Höhenlage funktioniert, versagt in der anderen, ja, die Trennung ist so strikt, dass die Bewohner mancher oberer Zonen einige Kilometer tiefer nicht einmal existieren können. Unten, an der Basis von Spearpoint, in Horsetown, leben die Pferde-User - Reynolds vermeidet es sorgfältig, diese Zivilisationsstufe als eine Westernwelt zu identifizieren, aber sie ist es.

Ganz oben, in den Celestial Heights, schweben die Engel, leichtgewichtige, geflügelte Humanoide mit gänzlich blauen Augen. Wesen, die so gründlich durchtechnisiert sind, dass sie in den niedrigeren Leveln von Spearpoint sterben, weil die Nanotechnologie in ihren Körpern aussetzt. Voller Arroganz und Mitleidlosigkeit wollen sie auch mit den anderen Bewohnern Spearpoints nichts zu tun haben; die medizinischen Dienstleistungen, die sie dem Pöbel gelegentlich gewähren, dienen einem rein wissenschaftlichen Interesse der Engel und haben nichts mit Großherzigkeit zu tun.

Leichenbeschauer in Neon Heights

Das alles ist relativ durchschaubar konstruiert. Man kann in Spearpoint leicht einen Abriss der menschlichen Technologiegeschichte sehen. Die Sache mit der Zonalisierung der Stadt, leicht als ein Reflex auf die "grünen" und "roten" Zonen unserer Tage zu erkennen, hat Mieville kürzlich auf einem schwer einholbaren Niveau vorgeführt.

Aber - und auch darin gleicht Reynolds' Ansatz dem von Mieville - die Sache ist ja immer komplizierter, als man denkt. Auftritt: der Held. Quillon ist sein Name, von Beruf ist er Leichenbeschauer in "Neon Heights", einer Spearpoint-Zivilisation, die etwa auf der Stufe der amerikanischen 1960er Jahre existiert, zwischen "Steamville" und "Circuit City" gelegen. Quillon wird als Mann mit Problemen eingeführt, noch bevor der Leser sein wirkliches Problem kennt - er sieht nicht aus wie einer, der noch so richtig unter den Lebenden weilt, sondern eher wie das, was sich täglich auf seinem Sektionstisch findet.

Absturz eines Engels

Andererseits scheint er sich mit dem Stand der Dinge abgefunden und sich in seinem gruseligen Alltag eingerichtet zu haben. Da klatscht eines Tages ein Engel in Neon Heights auf, denn auch Engel machen Fehler, und die Leiche wird zu Quillon gebracht, dem eine besondere Schwäche für Post-mortem-Untersuchungen an Engeln nachgesagt wird. Quillon ist, wie üblich, interessiert und erlebt am Sektionstisch eine Überraschung: Der Engel ist noch nicht tot. Sein Unfall war gewollt; wie sich herausstellt, hat er sich in voller Absicht fallen lassen, um zu Quillon gebracht zu werden.

Der Engel, auf dem Tisch langsam sterbend, konfrontiert Quillon mit seiner Lebenslüge. Denn eigentlich ist der Mediziner selber ein Engel, einer der wenigen, die von ihresgleichen modifiziert worden sind, um in anderen Spearpoint-Zivilisationen überleben zu können. Getarnt als einer der Normalmenschen sollte Quillon mit drei weiteren Mitgliedern ein experimentelles Vorauskommando sein, das die Möglichkeiten für eine Übernahme von Neon Heights durch eine Armee von modifizierten Engeln auszuloten hatte.

Instabile Zonen

Aber der Auftrag ging natürlich schief. Quillon tötete zwei seiner Mitinfiltranten, und nur durch die Nachsicht und mit Hilfe eines rebellischen Polizisten konnte er der Strafverfolgung sowie der Verfolgung durch seine ehemaligen Auftraggeber entgehen. Aber, so der gefallene Engel auf seinem Tisch, die Schonzeit ist vorbei. Aktuelle Instabilitäten in der rätselhaften Kraft, die die Zonen aufrechterhält, haben dem alten Vorhaben der Engel neue Dringlichkeit gegeben.

Sie wollen gewappnet sein für den Zeitpunkt, zu dem ein chaotisches Hin- und Herfluktuieren der Zonengrenzen ihre Existenz gefährdet. Quillon ist plötzlich wieder wichtig, und es scheint eine Fraktion der Engel zu geben, die ihn wichtig genug findet, um nach seinem Leben zu trachten. Allerdings gehört der Engel, der sterbend vor ihm liegt, zur Konkurrenz, er empfiehlt Quillon dringend, Spearpoint zu verlassen. Und damit beginnt die Reise, die Quest, die der eigentliche Gegenstand von "Terminal World" ist.

Hard SF

Die Kunst des Alastair Reynolds besteht nicht darin, absolut neue Ideen zu etwas nie Dagewesenem auszuarbeiten. Er hatte diesen Ehrgeiz auch nie. Er wollte immer ein technisch und physikalisch orientierter Hard-SF-Autor sein, der nicht vergessen hat, dass zum Erzählen einer glaubwürdigen Geschichte mehr nötig ist als große Raumschiffe, viel Geballer, noch mehr Technik und ein paar Schagworte aus der modernen Astrophysik.

Und das wäre ja angesichts des fatalen Zustands der Hard-SF auch schon sehr unterstützenswert. Was aber Reynolds zu einem besonderen Autor macht, sind seine dramaturgischen Fähigkeiten. Die filmische Klarheit seiner Szenen macht schon das Durchstreifen seiner Welten zu einem Genuss. Wenn er ein Raumschiff von innen beschreibt, dann reist der Leser mit. Ich habe noch selten eine Maschinenzivilisation so gut beschrieben gesehen wie die "Wölfe" aus seiner "Revelation"-Trilogie.

Figuren aus dem Untergrund

Aber die größte Stärke von "Terminal World" sind die Dialoge. Wo es früher bei Reynolds manchmal Probleme mit einer gewissen Gesprächigkeit gegeben hatte, sind in seinem neuesten Buch die Dialoge so knapp, bissig und fettfrei, aber dafür mit dem maximal möglichen, die Geschichte vorantreibenden Informationsgehalt versehen, dass für dieses Mal William Gibson ins Hintertreffen gerät, und der kann es nun wirklich auch.

Möglicherweise hat Reynolds noch mehr Shakespeare und noch mehr gute Hardboiled-Krimis gelesen, und da er auch das Casting für seine Figuren aus dem Effeff beherrscht, kann man beim Lesen schon einmal schwer ins Grinsen kommen, obwohl Leichtigkeit und Heiterkeit nicht gerade seine bevorzugten Stimmungslagen sind. Ja, es ist ein Vergnügen, Reynolds' Bücher zu lesen. Der so oft beschworene "Sense of Wonder" ist in jeder Zeile mit Händen zu greifen, Schlagfertigkeit, technisch-wissenschaftliche Orientierung und der Mut zur Großleinwand gehen bei ihm eine wunderbare Mischung ein. Auf die deutschsprachige Ausgabe wird man noch bis März 2011 warten müssen, aber die Geduld lohnt sich.

Rückblick

"FlashForward" sollte eine kühne Sache werden - eine Science-Fiction-Fernsehserie, teuer produziert, mit Stars besetzt (Joseph Fiennes, John Cho), alles erste Sahne. Und dann stolperte man über das bekloppte Grundszenario, den eigenen Ehrgeiz und die schlechten Quoten, und nach der ersten Staffel war Schluss. So ist das halt, wenn halbgare Mystery mit Zeitreise-Elementen zeitgenössische Phantastik ersetzen soll. Giving Science Fiction a bad name als TV-Produzenten-Ausdauersport. Schade um das schöne Geld.

Ausblick

Wo wir gerade bei William Gibson waren - sein nächstes Buch ist angekündigt. Wir treffen wieder auf Hollis Henry, Milgrim und den unvermeidlichen Hubertus Bigend. Das klingt nach Wiederholungstäterschaft, aber Gibson wäre nicht er selbst, wenn er das Ganze nicht in seiner Pfanne so schön um- und umwenden würde, dass es dann doch wieder von allen Seiten gut gebacken ist. Ich freue mich noch mehr darauf als auf das Verschwinden der schwarz-rot-gelben Bekenntnislappen nach der WM.

(Marcus Hammerschmitt)