Multiplayer-Games als Sweatshops
Der kanadische Science-Fiction-Schriftsteller Cory Doctorow geht in seinem jüngsten Werk "For the Win" ein heikles Thema an: Gold Farming. Jugendliche in Schwellenländern verdienen ihren Lebensunterhalt damit, für wohlhabende Spieler von Massive Multiplayer Online Games virtuelle Reichtümer zu erwerben.
Am Sonntag in "matrix"
Den Radiobeitrag zu diesem Thema hören Sie am Sonntag, dem 11. Juli 2010, um 22.30 Uhr im Ö1-Netzkulturmagazin "matrix".
Doctorows Buch handelt von den Gold Farmern, die unter den gleichen ausbeuterischen Bedingungen arbeiten wie ihre Eltern und Geschwister in den Sweatshops der Textilindustrie. Die Gold Farmer nützen die Games aber auch, um sich weltweit zu organisieren.
Doctorow, der sich für Creative Commons sowie die Bürgerrechtsorganisation Electronic Frontier Foundation (EFF) engagiert und die digitalen Versionen seiner Bücher als Gratisdownloads anbietet, beschäftigt sich damit erneut mit der Arbeits- und Wirtschaftswelt in einer vielleicht gar nicht so fernen Zukunft. In seinem Roman "Makers", der im Herbst 2009 auf den Markt kam, dreht sich diese Welt um Hightech-Bastler und 3-D-Drucker, die nach dem Zusammenbruch der klassischen Wirtschaft alles auf den Kopf stellen.
Marcus Hammerschmitt über "Makers".
Der Müll der Überflussgesellschaft
"Makers" beginnt in der Zeit nach dem totalen wirtschaftlichen Zusammenbruch in den USA. Die großen Shopping Malls, einst brummende Konsumtempel, sind verwaist und werden billig an Leute vermietet, die dort den Müll der einstigen Überflussgesellschaft sammeln und verwerten. Es sind Typen wie Perry Gibbons und Lester Banks, hochbegabte Schrauber und Hacker Anfang 20, die zwar kein Geld, aber tausend Ideen haben.
Auf der anderen Seite stehen Firmen, deren Produkte niemand mehr braucht oder nicht bezahlen kann. Eine davon ist Kodacell, ein Zusammenschluss von Kodak und Duracell. Der neue CEO Landon Kettlewell beschließt deshalb, alle Kodacell-Fabriken zu schließen und mit dem Kapital kleine kreative Teams zu unterstützen. Die Tage von Namen wie "General Electric", "General Mills" und "General Motors" seien vorbei, sagt Kettlewell in einer Pressekonferenz. Die Zukunft liege in den Händen von Entrepreneurs, und die möchte er mit Mikrokrediten und Risikokapital unterstützen.
Die Krise der Krise
Doctorow hat den Science-Fiction-Roman "Makers" noch vor der aktuellen Wirtschaftskrise geschrieben. Wer die Lage der Welt beobachtet und die Warnungen der Wirtschaftsfachleute und Wirtschaftskritiker gehört hat, konnte die Krise aber längst schon vorhersehen. Wie viele der Kritiker ist Doctorow der Meinung, dass die großen Konzerne viel zu groß geworden sind und dadurch viel zu unflexibel.
Doctorow: "Wir sind an einem interessanten Punkt in der Geschichte. Große Firmen sind entstanden, weil man damit viele Beschäftigte hat, die nach Märkten suchen und diese erschließen. Aber heute kann jemand, der auf der anderen Seite der Welt lebt, Ihre Produkte ganz einfach selbst finden und bei Ihnen bestellen. E-Commerce ist billig und einfach. Andererseits können die Leute aus Ihrer Umgebung dadurch auch am anderen Ende der Welt kaufen, statt bei Ihnen. Was wir aber bedenken müssen ist: Technologien, die radikale Veränderungen herbeiführen, schaffen keine stabilen Perioden mit ein paar instabilen Zeiten dazwischen. Viele Leute dachten in den 1980er und 90er Jahren: 'Okay, wir haben das Industriezeitalter hinter uns, wir erleben jetzt einen Umbruch und dann sind wir im Informationszeitalter. Nach ein paar Jahren des Chaos wird es wieder 150 Jahre ruhig dahingehen.' Ich glaube nicht, dass Technologien so funktionieren. Wenn man bei Technologien einen Wendepunkt erreicht hat, dann ist alles ständig in Veränderung. Die Welt erfindet sich jeden Tag neu. Was gestern funktioniert hat, wird morgen nicht mehr funktionieren."
Die Köttbullar-Zivilisation
So ist es auch in der Welt der "Makers": Perry und Lester basteln einen Roboter aus kitschigen Souvenirs, der Toast machen kann. Das geht aber nur so lange gut, wie die Sammler danach gieren. Haben die Kunden das Interesse verloren, wird das Produkt einfach verworfen. In der Werkstatt warten schon die Prototypen für zehn neue und im Kopf surren Ideen für hundert weitere.
Diese ständige Bereitschaft zur Veränderung ist nicht nur in der Science-Fiction-Welt von Vorteil, meint Doctorow: "Der Vorteil einer kleinen Firma ist, dass man nicht so viel investiert hat in das, was gestern noch funktioniert hat. Stellen Sie sich vor, Ikea würde morgen herausfinden, dass ihre Möbel sich nicht so gut verkaufen, wie sie gehofft hatten, ihre Fleischbällchen aber ein Renner sind. Sie müssten alle Leute rausschmeißen, die irgendwas mit Möbeln zu tun haben, und aus den Möbelhäusern Restaurants für Fleischbällchen machen."
Lob der Dreipersonenfirma
Doctorow sieht die internationalen Multis bei solchen Vorgängen im Nachteil. "Das wäre eine sehr schwierige Entscheidung für Ikea", sagt er, "sie müssten einen Haufen Leute kündigen, ihre Aktionäre von der neuen Strategie überzeugen und all die Möbel in den Lagerhallen loswerden. Wenn Sie eine Dreipersonenfirma sind und feststellen, dass das, was Sie machen, sich nicht besonders gut verkauft und Sie deshalb morgen etwas anderes machen wollen, haben Sie viel weniger zu verlieren. Sie können dadurch viel mehr experimentieren. Sie haben zwar kein bequemes Finanzkissen, dafür aber weniger Angst vor Risiko."
Für Leute aus der "Old Economy" ist das schwer verständlich, und so kommt es in Doctorows Buch "Makers" immer wieder zu Konflikten zwischen den Idealen und dem Hacker-Spirit der Maker und den kühlen, strategischen Überlegungen der Manager, der Suits. Eine gewisse Planlosigkeit könne aber durchaus von Vorteil sein, weiß Doctorow aus Erfahrung mit der Fotoplattform Flickr.
Spiel ohne Spiel
"Flickr war anfangs ein Spiel namens 'Game Never Ending' und wurde von der kleinen Firma Ludicorp aus Vancouver entwickelt", erinnert sich Doctorow, "Es war ein Social Game, ähnlich wie die Facebook-Spiele heute. Ich war einer ihrer Berater und lebte in San Francisco, und meine Freundin, die jetzt meine Frau ist, lebte in London - 9.000 Meilen und acht Zeitzonen entfernt. Eines Tages fragte mich Stewart Butterfield, einer der Gründer der Firma, wie es mit Alice läuft, und ich sagte: 'Es ist wunderbar, aber wir sind so weit voneinander entfernt, dass wir dauernd Fotos von unserem Alltag machen und einander mailen. Aber das ist mühsam, weil die Dateien so groß sind.' Stewart sagte: 'Wir haben im Spiel bereits eine Funktion zum Tauschen von Dateien, wir könnten sie auch für das Tauschen von Fotos optimieren.' Es stellte sich heraus, dass die User es liebten – mehr als das Spiel selbst. Eines Tages warf Ludicorp das Spiel einfach weg und machte daraus die Fotoplattform Flickr."
In einem großen Konzern wäre so etwas kaum vorstellbar, meint Doctorow. Im Buch "Makers" geht es aber nicht nur um die Frage, wie flexibel Firmen auf Veränderungen reagieren können. Es geht um mehr, nämlich um "New Work", um eine neue Form der Arbeit. Der Begriff und das Konzept von New Work wurden vom Philosophen Frithjof Bergmann vor rund 30 Jahren entwickelt. Er meint damit Arbeit, die Freiräume für Kreativität und die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit bietet – jenseits der Knechtschaft der Lohnarbeit.
3-D-Drucker für alle
Im Konzept von "New Work" sind die Menschen großteils Selbstversorger und produzieren die benötigten Güter gemeinschaftlich mit Hilfe von 3-D-Druckern, auch Fabrikatoren genannt. Frithjof Bergmann präsentierte seine Ideen zu einer Zeit, als sie noch utopisch erschienen, doch mittlerweile sind 3-D-Drucker erschwinglich geworden und auch in Österreich im Einsatz - zum Beispiel im Ars Electronica Center in Linz und im Metalab in Wien. Es gibt Open-Source-3-D-Programme, mit denen man Gegenstände modellieren kann, der Fabrikator "druckt" sie dann aus Kunststoff aus.
Etwas selbst zu machen, statt die Massenprodukte der Industrie zu hinzunehmen, ist in den vergangenen Jahren vom Hobbytrend zum Geschäftsmodell geworden. Nach Open-Source-Software, Medienplattformen und Filesharing stehen mittlerweile auch Open-Source-Hardware wie die Prototyping-Plattform Arduino und 3-D-Drucker für Heimanwendungen als einfache und billige Produktionsmittel zur Verfügung. Die "Makers" könnten bald eine neue industrielle Revolution auslösen, meinte das Magazin "Wired" in seiner Februar-Ausgabe.
"Makers" gegen Megakonzerne
Glaubt Doctorow, dass die "Makers" sich gegen die Macht der Konzerne tatsächlich durchsetzen könnten?
"Die Frage, ob ein paar Leute mit einem 3-D-Drucker in einer Garage und ein paar Kunden Bedeutung haben oder nicht hängt, davon ab, was Erfolg bedeutet", sagte der Schriftsteller, "früher hieß es, ein Zeichen für Erfolg ist, wenn eine Firma wächst und wächst und dann an die Börse geht und so weiter. Heute könnte man sagen, das ist ein Zeichen für Misserfolg. Wenn man diese Größe erreicht hat, ist es sehr schwierig, auf Veränderungen zu reagieren. Der Erfolg für 'Makers' hängt davon ab, ob sie Dinge tun können, die sie gerne tun, und davon leben können, und ob sie sich immer wieder auf Neues einstellen können. Das ist ein völlig anderer Maßstab für Erfolg, als dass du groß genug geworden bist, um in NASDAQ gelistet zu sein. Das ist weniger attraktiv für Investoren, aber es könnte eine nachhaltigere Zukunft garantieren."
Solidarisierung über Games
Die Handlung von Doctorows Science-Fiction-Romane bewegt sich stets nahe an der aktuellen Realität. In seinem neuesten Buch "For the Win" geht es um Jugendliche aus großteils armen Ländern, die mit Computerspielen Geld verdienen. Solche Gold Farmer gibt es tatsächlich in China und Indien. Doctorow hat nur das Ausmaß ihrer Arbeit und deren Ausbeutung weitergedacht. "For the Win" ist nach "Little Brother" sein zweiter Roman für Jugendliche, und Doctorow hat damit erneut aktuelle Probleme jugendgerecht in ein SF-Szenario verpackt. Sein Thema ist diesmal die Arbeit unter den Bedingungen der Globalisierung.
"Wir haben gesehen, wie globalisiertes Kapital aussieht, aber wir haben noch nicht gesehen, wie globalisierte Arbeit aussieht", meint Doctorow, "wir beginnen jetzt, das allmählich zu verstehen. In meinem Buch werden Multiplayer Online Games dazu genutzt, eine Gewerkschaft zu gründen, und zwar von Jugendlichen, die in Sweatshops arbeiten. Eine Gewerkschaft zu organisieren, bedeutete früher sehr viel Arbeit, die heute aber durch das Internet gefördert werden kann. Früher musste ein Gewerkschafter sehr viele Kuverts ablecken, das ist heute nicht mehr notwendig! Aber ich glaube, dass die Gewerkschaften - wie alle großen Organisationen - mit diesen Veränderungen noch nicht umgehen können. Sie nützen die Vorteile noch nicht, sie sind da sehr reaktionär."
Als Fazit könnte man für "For the Win" wie für "Makers" das folgende Motto nehmen: Lasst euch nicht von den großen Organisationen einschüchtern, sondern tut euch zusammen. Gemeinsam werden wir es schaffen - oder auch nicht. Denn das Ende von Doctorows Romanen ist immer etwas ambivalent. Das von "For the Win" verraten wir an dieser Stelle natürlich nicht.
(matrix/Sonja Bettel)