© APA/EPA/Mohamed Messara, UNO-Fahne

Menschenrechte im digitalen Zeitalter

NETZ
30.07.2010

Eine internationale Expertengruppe arbeitet derzeit an einer "Charta der Menschrechte und Prinzipien im Internet", die beim Internet Governance Forum (IGF) der UNO im September in Vilnius vorgestellt werden soll. Der Völkerrechtsexperte Wolfgang Benedek sprach mit ORF.at über die Probleme und Herausforderungen, Menschenrechte für das Internet zu formulieren, und über die Zukunft der Internetgovernance.

Mit der steigenden Bedeutung des Cyberspace als sozialem Raum gibt es auch ein steigendes Regelungsbedürfnis, so die Meinung der Juristen. Die wachsende Bedeutung des Internets und die Besonderheiten der Informationsgesellschaft erfordern neue Rechte, auch für die Menschen, die sich darin bewegen sollen.

"Beim Weltgipfel in Tunis hat man sich damit begnügt, auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) zu verweisen und nicht näher auszuführen, welche Menschenrechte im Einzelnen jeweils maßgeblich sind", so Benedek, Leiter des Instituts für Völkerrecht und Internationale Beziehungen an der Karl-Franzens-Universität Graz. "So entstand die Idee, neue Menschenrechte für das Internet und eine Konvention zu formulieren."

WSIS und IGF

Nachdem auf den Weltgipfeln zur Informationsgesellschaft (WSIS) der Vereinten Nationen in Genf 2003 und in Tunis 2005 keine Einigung zur künftigen Gestaltung der Internetverwaltung erlangt wurde, einigten sich die Delegierten auf einen Kompromiss und gründeten das Internet Governance Forum (IGF), das 2006 erstmals in Athen stattfand. Neu war der Multi-Stakeholder-Ansatz, den die UNO definierte. Die Internetgovernance sollte auf dem gemeinsamen Zusammenwirken von Regierungen, Privatwirtschaft, Zivilgesellschaft und technischer Community basieren.

Menschenrechte für das Internet

Im Rahmen des IGF, das jedes Jahr auf einem anderen Kontinent stattfindet, diskutieren Stakeholder, wie Regierungen, Vertreter internationaler Organisationen, Privatwirtschaft, Wissenschaftler und NGOs, eine Woche lang über anstehende Probleme und Themen im Bereich Internetgovernance. Die beim ersten IGF 2006 in Athen vorgestellte Internet Rights Charter der Association for Progressive Communications (APC) habe den ersten Ansatz für eine Charta geliefert, sagte der Völkerrechtler.

Danach sei vor allem von NGOs – insbesondere aus Italien und Brasilien – eine Bill of Rights forciert worden, woraus schließlich die Dynamic Coalition on Internet Rights and Principles (IRP) entstand. Eine Dynamic Coalition sei eine Besonderheit im IGF. "Wenn jemand ein Thema für wichtig hält, dann lädt er alle ein, an diesem Thema mitzuarbeiten", erklärt Benedek. So gebe es etwa eine Dynamic Coalition für Meinungsfreiheit und eine für das Thema Internet und Entwicklung. Die Interessensgruppe beschäftige sich dann mit dem Thema intensiver und berichte im jährlichen IGF über die Fortschritte.

Multi-Stakeholder-Prinzip

Innerhalb der IRP arbeitet eine Arbeitsgruppe von sechs internationalen Völkerrechtsexperten derzeit eine Charta der Menschenrechte und Prinzipien im Internet aus. "Es ist notwendig, dass die Gruppe sehr klein ist, weil es sonst enorme Konsensprobleme gibt", erläutert Bendek, der auch selbst in der Arbeitsgruppe präsent ist. Als Basis dienen die bereits von APC sowie anderen Privatinitiativen formulierten Texte. Bevor die Charta in Vilnius vorgestellt werde, durchlaufe das Papier mehrere Konsultationen von UNO-Experten, Europarat und UNO-Unterorganisationen wie der UNESCO.

Das Multi-Stakeholder-Prinzip, das heißt die gleichberechtigte Teilnahme von NGOs an allen Debatten im IGF, hält Benedek für "sehr interessant". Wirtschaft, Politik und internationale Organisationen versuchen gemeinsam mit der Zivilgesellschaft, Themen auszuloten, "ohne dass man Beschlüsse fassen will. Das hat man sich von vornherein nicht vorgenommen."

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Erst im Juni wies Rod Beckstrom, CEO der Internet-Adressverwaltung ICANN, die Forderungen nach mehr Einfluss nationaler Regierungen auf das Management des Netzes zurück. Vielmehr sollten alle Interessengruppen dabei mithelfen, die anstehenden Probleme in der Netzverwaltung zu lösen.

Vorteil: Kein Kompromisszwang

Interessant sei daran zum einen die "indirekte Regulierung". So gebe es keine Entscheidung durch eine Mehrheit, sondern vielmehr werde durch "Überzeugung und zukunftsträchtige Argumente" eine Lösung gefunden. Damit käme es zu keinem Kompromisszwang, sondern "die Sachlogik für die Sache selbst" dominiere. Diesen Vorteil würden auch die Staatenvertreter und die Wirtschaft sehen, so Benedek.

Auf der anderen Seite gebe es mit der Bedeutungssteigerung des Internets seitens der Regierungen auch Tendenzen, mehr Kontrolle über die Regulierung übernehmen zu wollen. "Zum Beispiel ist Saudi-Arabien nicht gewöhnt, mit NGOs zu arbeiten", so Benedek. Das sei in erster Linie für souveränitätsorientierte Staaten typisch. "Die USA sind offener, dort spielt die Zivilgesellschaft auch eine größere Rolle." Während hingegen auch die EU - wie unter der früheren EU-Telekomkommissarin Viviane Reding - mehr Kontrolle anstrebe und die Zivilgesellschaft nicht die volle Unterstützung erhalte.

Traditionelle Regelungsformen nicht geeignet

Zudem funktioniere dieses "Alternativmodell für Entscheidungsförderung" für dynamische Prozesse sehr gut. Die traditionellen Regelungsformen des Völkerrechts, also das "Beraten einer Konvention, die dann Jahre braucht, bis sie abgeschlossen ist, und noch ein paar Jahre bis sie in Kraft tritt", funktioniere hier nicht. "Denn wenn diese in Kraft treten, dann liegt das Problem schon ganz woanders", so Benedek.

Auch wenn es nur ein "offener Dialog" sei und keine bindenden Beschlüsse beim IGF gefasst würden, orientieren sich Organisationen oder etwa der Europarat an dem Konsens. Der Europarat sei in Governance-Fragen – besonders was die Menschenrechte betrifft – sehr engagiert, meint Benedek. Nicht zuletzt deshalb, weil er sich "um Fragen wie Public Service Value - also den öffentlichen Dienst, den das Internet leisten soll - sehr bemüht" und kein Interesse daran bestehe, dass dieses privatisiert werde.

Menschenwürde: Schutz der digitalen Identität

Ausgangspunkt für das Konzept der Menschenrechte ist die Menschenwürde, im digitalen Zeitalter also der Schutz der digitalen Identität. "Es geht darum, Werte zu identifizieren, daraus Prinzipien abzuleiten und in weiterer Folge Standards", so Benedek. Eine Herausforderung sei insbesondere "wie oder was definieren wir und was muss rein und was nicht". Ziel der Charta sei "im Wesentlichen, Rechte zu beschreiben, die als verbindlich zu betrachten sind".

Die Liste der im Rahmen der Charta diskutierten Themen ist lang, beginnend mit dem Zugang zum Internet. "Das ist quasi die Voraussetzung, aber ist das schon ein Menschenrecht?", fragt Benedek. "Wenn jemand keinen Zugang zum Internet hat, wird er sich im Alltag extrem eingeschränkt fühlen." Weshalb die Meinung vorherrsche, den Zugang als solches als Recht zu identifizieren.

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Freier Zugang zum Internet

Die Frage sei jedoch auch, wie weit es gehen solle und ob es Breitband sein müsse. Bereits mehrere Länder hätten etwa verfassungsrechtlich ein Recht auf Breitbandzugang zum Internet gesichert. Seit Anfang Juli etwa sind finnische Provider verpflichtet, jedem Einwohner eine Datenübertragung mit einer Geschwindigkeit von einem Megabit pro Sekunde zuzusichern.

In diesem Zusammenhang werde auch die Frage diskutiert, ob es immer einen öffentlichen Zugang zum Internet geben müsse. "Bei Sanktionen wegen Copyright-Verletzungen müsste es andere Wege geben als das Internet abzudrehen", wie etwa beim Three-Strikes-Out-Modell. In der Charta werde das Thema nicht direkt behandelt, vielmehr "geht es um das Prinzip, dass der Internetzugang viele vitale Funktionen erfüllt und somit nicht verunmöglicht werden darf".

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Freie Meinungsäußerung zentrale Recht

Dann stelle sich das Problem, in welcher Form der Zugang garantiert werden müsse, in welchen Sprachen, in welchen Alphabeten. Erst kürzlich habe die Internetadressverwaltung ICANN beschlossen, auch Kyrillisch und andere Alphabete zu akzeptieren. Der Zugang zum Internet in kindgerechter Weise und jener für ältere Menschen werde ebenso diskutiert wie das Problem der digitalen Kluft und der Netzneutralität. Hier reagiere die Community mit dem Argument, dass ein Gleichbehandlungsprinzip notwendig sei.

Große Themenbereiche der Charta sind:

Ein zentrales Recht sei die Meinungsäußerungsfreiheit. Vor welchen Herausforderungen die Arbeitsgruppe steht, zeigen die Diskussionen dazu, insbesondere vor dem Hintergrund der Kriminalitätsbekämpfung. "Wir haben das Problem, dass hier unterschiedliche Philosophien zwischen den USA und Europa bestehen. In den USA, wo die politische Korrektheit so weit geht, dass keine nackten Brüste gezeigt werden dürfen, ist es aber kein Problem, Naziparolen in das Internet zu stellen", erläutert Benedek.

USA - EU: Unterschiedliche Philosophien

Auch gewaltverherrlichende Aussagen seien in den USA erlaubt, in Europa sei die Meinungsäußerung, was etwa rechtsextreme Propaganda betrifft, jedoch gesetzlich geregelt und verboten. In diesem Fall "werden wir den europäischen Ansatz verfolgen", so Bendek, da die USA hier mit dem "freedom-of-speech-Ansatz eine Außenseiterposition vertritt". Unterstützung erlange der europäische Ansatz auch von den Ländern des Südens.

Einen breiteren Konsens gebe es bei der politischen Meinungsäußerung, die nicht beschränkt werden solle. Wobei sich auch hier einige Länder für Einschränkungen einsetzen würden, was etwa religiöse Aussagen betrifft. "Was ist Diffamierung und was ist künstlerische Freiheit?", fasst Benedek das Problem zusammen. "Auch Hassreden sind meiner Meinung nach legitime Ausnahmen der Meinungsäußerung", sagt Benedek.

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Filter vs. offenes Internet

Eine der größten Herausforderungen aktuell sei der Kampf um die Offenheit des Internets, der sich zunehmend verschärfe. So gebe es zahlreiche Länder und Regierungen, die der Meinung seien, dass sie sich kein "freies Internet" leisten können, wie etwa eine iranische Regierung. Bedenklich sei auch, wenn sich "das größte Land im Internet" China mit seinen immerhin 400 Millionen Nutzern mittels Blockieren und Filtern vom restlichen Internet abschirme.

"Es wird überall gefiltert, das wissen wir, aber wir wissen nicht, nach welchen Kriterien", so Bendek. Nachvollziehbar sei etwa, wenn die EU beschließe, zum Schutz vor Kinderpornografie zu filtern. "Meistens ist es aber auch nur ein Vorwand", so Bendek. Auf der anderen Seite: Wie geht man damit um, wenn auf Facebook ein Wettbewerb ausgerufen wird 'wir zeichnen den Propheten Mohammed'? "Das war für die islamischen Länder nicht so witzig", so Bendek.

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Standards für Soziale Netzwerke

Ein Kernthema seien auch Soziale Netzwerke. Hier würde versucht, Standards zu erstellen, um den Schutz der Privatsphäre zu gewährleisten, wie etwa das Recht auf eine aufgeklärte Entscheidung. "Das heißt, ich muss wissen, was ich tue. Das muss man mir aber auch erklären", erläutert Benedek. Zudem würden auch das Recht auf Datenkontrolle aber auch das Recht auf Verlassen des Netzwerks diskutiert. "Wir reden gerade darüber, wie viele Klicks es braucht, dass man aus Facebook wieder rauskommt."

Gibt es auch so etwas wie ein Briefgeheimnis im Internet? "Im Prinzip sollte es das geben, aber wie soll so etwas formuliert werden", erläutert Benedek die schwierige Problematik. Das Recht auf Anonymität werde sehr kontrovers diskutiert, vor allem wegen des möglichen Missbrauchs. "Die Community ist der Meinung, dass es ein solches Grundrecht geben soll." Schließlich sei es in der Offline-Welt auch möglich, dass Briefe anonym geschrieben und versandt werden können.

Eng an die Privatsphäre sei auch der Datenschutz geknüpft. "Google, das relativ lange alle Daten speichert und wir nicht wissen, wie sie verwendet werden", nennt Benedek als Problembeispiel. Auch bei Sozialen Netzwerken solle es ein Recht zur Information über die gesammelten Nutzerdaten geben, oder dem User ein Recht auf Korrektur eingeräumt werden. "Das gibt es auf staatlicher Ebene sehr wohl, auch wenn es wenige nutzen."

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~ Link: Karl Popper wäre Open-Access-Fan (../http://www.fuzo-archiv.at/?id=1623476v2) ~

Bildung vs. Urheberrecht

Besonders spannend findet Benedek das Verhältnis zwischen geistigem Eigentum und dem Recht auf Zugang zu Wissen. "Wie geht man damit um, dass einer das Wissen hat und dieses nur gegen Geld hergegeben will? Publikationen von Forschungsinstitutionen, die mit öffentlichen Geldern unterstützt wurden, sollten auch öffentlich zugänglich sein", fordert Benedek.

So seien Urheber-Interessen durchaus legitim, jedoch "müssen Wege gefunden werden für diejenigen, die es sich nicht leisten können", meint Benedek. So solle es etwa für ärmere Länder kostengünstigere Zugänge zu Datenbanken geben, was auch im Rahmen der Diskussion zum Grundrecht auf Bildung sehr intensiv diskutiert worden sei. Angestrebt werde hier ein möglichst freier und breiter Zugang zu den Inhalten. "Die exklusive Nutzung soll möglichst gering sein, zudem fordern wir auch ein faires Verfahren bei einem Vergehen."

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Fragmentierung des Internets

"Die Bedeutung der Menschenrechte wächst gerade, auch wegen der zunehmenden Ingerenz", also dem strafbares Herbeiführen einer Gefahrenlage. "Je mehr versucht wird, hier einzugreifen, umso mehr müssen wir uns durch Menschenrechte dagegen schützen", sagt Benedek.

Für die Zukunft stelle sich die Frage, ob das Internet so erhalten werden könne, wie es derzeit existiere, "als einen Raum, in dem wir alle gemeinsam unterwegs sind und gemeinsam nutzen", oder eine Fragmentierung zu befürchten sei. "Gewisse Fragmentierungen gibt es bereits", so Benedek, "in China zum Beispiel".

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(futurezone/Claudia Glechner)