"Kraken": Die Fangarme des Gottesglaubens
In seinem neuen Roman "Kraken" mobilisiert der britische Schriftsteller China Mieville das ganze Spektrum seiner subtilen Monstren, abnormen Kulten und dunklen Technologien. Vordergründig ein fantastisches Action-Spektakel, ist das Buch doch vor allem ein Text über Magie und Religion im 21. Jahrhundert.
Wenn Marxisten von der Religion sprechen, belassen sie es meistens bei dem Hinweis auf den menschlichen Ursprung der Götter und auf die Natur der Religion als "notwendig falsches Bewusstsein" (notwendig qua Entstehungsweise und Funktion). Dass "da mehr" ist, weil genau diese Notwendigkeit den Glauben an das "Mehr" erzwingt - interessanterweise in Analogie zum Geld, aber das nur nebenbei -, bleibt allzu oft unbeachtet. "Kraken", der neue Roman des britischen Phantastikautors Mieville, leistet sich diesen Lapsus nicht.
Billy ist eigentlich niemand Besonderes, jedenfalls kommt er sich nicht besonders vor. Als Tierpräparator arbeitet er im Londoner Museum of Natural History, und weil jeder, der dort als Tierpräparator angestellt ist, turnusmäßig Besucher durch die Labore und Sammlungen führen muss, macht er es eben auch. Die Besucher wiederum sind eigentlich nur an einem einzigen Ausstellungsstück interessiert, das in den Kellern aufbewahrt wird: einer acht Meter langen Riesenkrake.
Zum Autor:
Marcus Hammerschmitt, geboren 1967, ist Schriftsteller und Journalist. Einmal im Monat verfasst er für futurezone.ORF.at einen Bericht zum Zustand der Zukunft. Veröffentlichungen (Auswahl): "Target" (Suhrkamp 1998), "Instant Nirwana" (Aufbau 1999), "Polyplay" (Argument 2002), zuletzt: "Der Fürst der Skorpione" (Sauerländer 2007) und "Yardang" (Sauerländer 2010).
Mann und Molluske
Der Tank für das Biest ist von den gleichen Leuten hergestellt worden, die Damien Hirst die Tanks für seine Hai- und Kuhpräparate lieferten. Da Billy für die Konservierung der Krake hauptverantwortlich war, und das Präparieren von Mollusken der einzige Sektor ist, auf dem er sich und andere ihn richtig gut finden, ist ihm die Museumsführerrolle zwar insgesamt lästig, aber im Detail nicht völlig ohne Reiz.
Sehr viel spannender wird sie mit der Führung, die am Anfang von "Kraken" dargestellt wird, denn die Krake, um die es den Besuchern - und letztlich auch Billy - immer geht, ist verschwunden. Das ist angesichts der Sachlage unmöglich - Tank und Tierkörper könnten ohne massive bauliche Veränderungen am Aufbewahrungsort gar nicht bewegt werden - es sei denn, Hexerei war im Spiel. Und um Hexerei handelt es sich tatsächlich. Billy hatte zwar in der letzten Zeit vor dem Diebstahl "seiner" Krake seltsame akustische Halluzinationen, aber er hätte nie geahnt, dass London ein Hauptquartier obskurer Kulte und ihrer magischen Praktiken ist, und dass das Verschwinden seiner Krake eine Lawine an übernatürlichen Ereignissen auslösen würde, die in ihrer Gesamtheit auf nichts anderes als auf die Apokalypse hinauslaufen.
Kulte mit Saugnäpfen
Seine enge Verbundenheit mit der Krake ist für Billy gar nicht gut, denn einige besonders eifrige Freaks, die die Krake für einen Gott halten und ihre Religion in London schon seit Jahrhunderten ausüben, sehen den ahnungslosen Tierpräparator im Zentrum des Geschehens, haben seine Hände doch den Leib des Herrn berührt. Das sind aber noch nicht die schlechtesten Nachrichten für ihn. Denn auch andere Fraktionen des magischen Untergrunds sind auf der Suche nach der Krake. Zusätzlich will eine diskrete Abteilung der Londoner Polizei, die mit teilweise übernatürlichen Mitteln diesen magischen Untergrund überwacht, von Billy ebenfalls Genaueres wissen.
Und da wären noch Goss und Subby, zwei Gestalten aus der Hölle, die sich Billy empfehlen, indem sie in seiner Anwesenheit seinen besten Freund Leon ermorden, und zwar durch Einatmen. Billy taumelt durch diese Schattenwelt, in der er für die einen ein Prophet, für die anderen ein superschurkischer Feind ist, wie ein Tankwart durch den Hades, und er glaubt über lange Strecken auch, dass das Chaos um ihn herum auf einer Art Verwechslung beruht - wären da nicht die seltsamen Halluzinationen vor dem Verschwinden der Krake gewesen und seine Träume, die zumindest sein Unterbewusstes doch irgendwie enger mit der Krake und den Sehnsüchten der Gläubigen verbinden.
Ein finsteres London
Was sich wie die Spaßfantasy eines Terry Pratchett anhört, ist in Wirklichkeit etwas ganz anderes. Mieville lebt auch in "Kraken" seinen schwarzen englischen Humor aus, aber er ist dann doch zu leidenschaftlich und ernsthaft mit seinen Themen verbunden, um einfach eine Screwball-Komödie herunterzureißen. Wie immer geht es ihm um die Stadt und ihre Gesellschaft, und es ist nun einmal sein Programm, den späten Kapitalismus mit den Metaphern der Magie anzugehen.
Wenn wir in dem Zustand bereits angekommen sind, in dem Technologie als Mittel zu Beherrschung der Natur von der Magie zunehmend ununterscheidbar wird, reagiert Mieville darauf, indem er diesen Zustand mit den Mitteln der phantastischen Literatur bearbeitet. Man kann die Methode mögen oder bezweifeln, aber es ist schwer, sich dem Reiz der Produkte zu entziehen.
Keine Zauberformeln
Dazu trägt bei, dass er im Unterschied zum Beispiel zu Pratchett versucht, jedem seiner Stoffe eine eigenständige Gestalt zu geben, und es seit einiger Zeit auch vermeidet, immer wieder auf das Bas-Lag-Universum seiner früheren Erfolgsromane "Perdido Street Station", "The Scar" und auch noch "Iron Council" zurückzukommen - was einer bestimmten Sorte von Lesern, die eher nach einem neuen Pratchett suchen, nicht behagt.
Das redundante Auswalzen von "Universen" ist seine Sache nicht - ein Schriftsteller von seinem Format könnte jede seiner Geschichten in Bas-Lag ansiedeln, aber er hat offensichtlich keine Lust dazu, und außerdem den Mut, die Erwartungshaltungen seiner Leser zu enttäuschen. Um einen Vergleich in seinem eigenen Werk zu "Kraken" zu finden, muss man schon zu den wenigen Kurzgeschichten greifen, die er veröffentlicht hat, besonders zu "Reports of certain Events in London" - das London in dieser Story ist dem von "Kraken" noch am ähnlichsten.
Verzicht auf Parallelwelten
Der Vergleich mit "Un Lun Dun" funktioniert nicht, weil "Kraken" eben nicht von der Konstruktion eines zweiten, magischen Londons neben dem eigentlichen ausgeht, sondern von der kontinuierlichen Durchmischung des Alltags mit Magie, die sehen kann, wer ein bisschen am Polarisationsfilter der Realität zu drehen in der Lage ist.
Damit erweist sich "Kraken" als ein überaus würdiger Nachfolger früherer "Urban Fantasy"-Bücher wie "A war for the Oaks" von Emma Bull und the "The Folk of the Air" von Peter S. Beagle, beides ungleich schlechtere Bücher als "Kraken", aber dennoch für Mievilles Methode richtungsweisend. Wer sich also den Spaß gönnen will, Magie und Alltag zusammenzudenken, und "Kraken" als eine Vertretung in erzählender Prosa für die Analyse der Undurchdringlichkeit unseres Alltags begreifen kann, der wird von dem Buch nicht enttäuscht werden.
Rückblick
Wo wir gerade bei "Urban Fantasy" sind: bei dem Sherlock-Holmes-Film mit Robert Downey Jr. und Jude Law handelt es sich natürlich auch um ein Beispiel dieses Genres. Unser Blick auf das 19. Jahrhundert hat sich seit dem Passagenwerk von Walter Benjamin stark gewandelt.
Wo vorher die Sicht vorherrschte, dass das 19. Jahrhundert ein Zeitalter des Epigonentums und der Stagnation gewesen sei, wundert sich der zeitgenössische Blick über das unglaubliche Potenzial, das sich zwischen 1800 und 1900 aufbaute, von den mechanischen Computern des Charles Babbage bis zu den Brüdern Lumiere, und begreift es mehr und mehr als einen Spiegel des 21. Jahrhunderts.
Diese Auffassung ist so sehr Allgemeingut geworden, dass Produkte wie "Sherlock Holmes" gar nicht mehr ohne sie auskommen können; wer sich den Erzählstrang über die Höllenmaschine vor Augen hält, die in diesem Film zum Einsatz kommen soll, begreift unmittelbar, was das bedeutet.
Ausblick
Sag zum Abschied leise "Servus". Wie alles muss auch die Zukunft einmal enden, aber diese Kolumne endet schon bald, zusammen mit futurezone.ORF.at, von der sie ein kleiner Teil war. Das war die vorletzte Folge, am 1. Oktober wird endgültig Schluss sein. Ich verabschiede mich schon jetzt mit dem Ausdruck des Bedauerns von meinen Leserinnen und Lesern und hoffe auf ein Wiedersehen in der Zukunft.
(Marcus Hammerschmitt)