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Steampunk: Verdampfte Utopien

ZUKUNFT HEUTE
05.09.2010

So viele Zukünfte gibt es, die nie Wirklichkeiten wurden; ihre Zahl ist unüberschaubar. Aber nichts, was die Menschheit einmal begehrt hat, geht ihr ganz verloren; was einmal geträumt wurde, bleibt untot. Gerade Steampunk zeigt, dass Nostalgie und Traum als emotionale Lagerstätten des Zukünftigen funktionieren.

Nehmen wir zum Beispiel die Dampfkraft und den Kommunismus. Dass beide etwa aus der gleichen Zeit stammen, dem an Träumen reichen 19. Jahrhundert, und dass sie auch sonst genetisch einiges miteinander zu tun haben, ist an sich interessant, soll aber hier nicht das Hauptthema sein - sondern die Formulierung beider Dinge durch Nostalgie und Traum.

Zweifellos hat es die Dampfeisenbahn gegeben, obwohl man sich heute manchmal fragt, wie das hat sein können, denn die meisten infrastrukturellen Bedingungen, die dieses sehr bemerkenswerte Verkehrssystem unterstützt haben, sind verschwunden. Die Wassertürme, die Kohlenbunker, der Beruf des Heizers und vieles mehr. An all das denkt man von heute aus (wenn überhaupt) entweder mit milder Herablassung oder mit sentimentaler Nostalgie, mit der wissenschaftlichen Haltung einer musealen Industriekultur oder der detailversessenen Fetischisierungslust der Nostalgiebahner.

In Luft aufgelöst

Was so verloren geht, ist der Restbestandteil an Traum, der in der Dampfkraft immer noch steckt, und es ist kein Wunder, dass diese Traumreste Beute und Steinbruch einer speziellen Art der Phantastik wurden, die exakt zu dem Zeitpunkt auf die Bühne trat, als in den entwickelten Industrienationen die letzten Dampflokomotiven außer Dienst gestellt wurden: des Steampunk. Ob man sich nun für den Anime "Steamboy" entscheidet, für "The Difference Engine" von William Gibson und Bruce Sterling oder den eher schwachen Film "Wild, Wild West" heranzieht, der Subtext ist immer der gleiche: die Entfesselung der Möglichkeiten der Dampfkraft über das Stadium hinaus, das sie tatsächlich historisch erreicht hat, und dadurch die Entfesselung der Träume, die diese Möglichkeiten provozieren.

Die Nostalgie erweist sich in diesem Zusammenhang als ein höchst dialektisches Gefühl: Sie bewahrt den Traum auf, den der Steampunk ausspricht, und verrät ihn gleichzeitig an das Sentiment. Die Phantastik darf das Sprengmaterial der technischen und sozialen Sehnsüchte, die mit der Dampfkraft verbunden waren, unter der Bedingung diskutieren, dass sie nicht ernst genommen zu werden braucht; die Nostalgie ist immer erlaubt, da der Verrat erwünscht ist. Auf seltsam analoge Weise ist all das auch mit dem Kommunismus geschehen, den es nie gegeben hat. An seiner Stelle gab es den Ostblock, und er hat den Kommunismus unter den Gegebenheiten der Realpolitik nachhaltiger beschädigt als alles andere.

Kaputt in Mexiko

Als die Geschichte 1991 endete, endete sie jedoch nicht, denn das Begehren, die Gesellschaft möge einmal vernünftig eingerichtet sein, blieb ja existent, und es ist das Verdienst einer selbst schon wieder vergessenen Rebellion gewesen, diesen Widerspruch am Ende der großen Lüge vom Ende ausgesprochen zu haben: die Zapatisten mit ihrem "Subcommandante Marcos" als Symbol lösten die Aufgabe gut, und dennoch ist das reale Mexiko von heute der Beleg ihres vorläufigen Scheiterns - ein schwarzes Loch von Gewalt und Terror, das blanke Gegenteil der Vernunft, gültig dargestellt in den bösen Träumen von Roberto Bolanos Roman "2666".

Man kann darüber verbittern, nostalgisch werden oder zynisch, das ändert aber nichts daran, dass die uneingelösten Träume der Vergangenheit der Motor des Zukünftigen sind - wie sich leider auch an einer Gegenwart erweist, die den schlimmsten Phantasien früherer Science Fiction die Tür in die Zukunft öffnen will. Und es ist nicht das geringste Verdienst von China Mievilles "Iron Council", diesem Trend zur Zukunftsidiotie eine Formulierung der Traumresiduen in der Dampfkraft und im Sozialismus entgegengehalten zu haben, die um alle prekären Rahmenbedingungen, alle bitteren Möglichkeiten des Scheiterns weiß. Wer wissen will, warum es nicht hat sollen sein, und doch werden soll, der kann ja dieses Buch lesen. In unseren freien Gesellschaften ist immerhin das noch möglich.

Vorschau

Passend zum Thema bleibt die Rückschau diesmal aus. Und die Vorschau beschäftigt sich mit dem wirklich allerletzten futurezone-Artikel ever - von mir zumindest. Es kann für diesen kommenden Artikel natürlich kein besseres Thema geben als ein Werk mit dem Titel "Zero History" - doch, der neue Gibson heißt genau so. Kommt am 3. September. Und wenig später kommt meine Meinung dazu.

(Marcus Hammerschmitt)