© APA/EPA/Halldor Kolbeins, Parlament in Reykjavik

Island: Zwischen WikiLeaks und EU-Beitritt

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01.09.2010

2008 erlebte Island den totalen Zusammenbruch seines Bankensystems. Derzeit versucht die Insel, sich als sicherer Hafen für freie Medien neu zu positionieren. Kernstück dieser Bemühungen ist die Icelandic Modern Media Initiative (IMMI), die investigative Journalisten und deren Quellen ebenso schützen soll wie Telekoms und Provider. ORF.at hat sich bei einem Sprecher der Initiative über den Stand der Dinge und über das Verhältnis von IMMI zur Whistleblower-Website WikiLeaks erkundigt.

Mitte Juni dieses Jahres hat IMMI die wichtigste Hürde im isländischen Parlament genommen. Die Initiative wurde mit 50 Stimmen bei keiner Gegenstimme und zwölf Enthaltungen durch Abwesenheit akzeptiert, eingebracht wurde sie von 19 Abgeordneten aus fünf Parteien, die das politische Spektrum von den Grünen über die isländischen Sozialdemokraten bis hin zu den Konservativen abdecken.

Ziel von IMMI ist es, die progressivsten Elemente des Medienrechts aus anderen Staaten zu nehmen und zu einem Gesetzespaket zu schnüren, mit dem ein Maximum an Informationsfreiheit gewährleistet werden soll. So soll es ein starkes Informationsfreiheitsgesetz geben, Whistleblower und andere Quellen sollen ebenso geschützt werden wie die Kommunikation zwischen ihnen und den Journalisten. Außerdem soll es starke Einschränkungen für die Umstände geben, unter denen Einstweilige Verfügungen ausgesprochen werden können.

Auch der Praxis des "fliegenden Gerichtsstands", bei dem sich der Kläger ein ihm wohlgesonnenes Gericht aussuchen kann, um gegen unbequeme Medien vorzugehen, will IMMI einen Riegel vorschieben. Im Gegensatz zu Bestrebungen der EU-Kommission, die im Rahmen der Verhandlungen über das Anti-Piraterie-Abkommen ACTA Provider für die Inhalte in deren Netzen verantwortlich machen will, strebt IMMI das genaue Gegenteil an: Die Provider sollen nicht aufgrund von Inhalten in ihren Netzen geklagt werden und damit zu Zensurmaßnahmen missbraucht werden können.

ORF.at fragte bei Smari McCarthy, einem Sprecher der Initiative, nach, wie weit die Bemühungen zur Umsetzung des Projekts schon gediehen sind.

ORF.at: Herr McCarthy, IMMI ist von einer großen Mehrheit des isländischen Parlaments angenommen worden. Warum eigentlich? Informationsfreiheit ist normalerweise ein stark umstrittenes Thema.

Smari McCarthy: Jemand hat einmal gesagt, dass man eine Krise niemals ungenutzt lassen sollte. Die Isländer haben in den letzten beiden Jahren miterleben müssen, wie ihr gesamtes Bankensystem verschwunden ist und die Wirtschaft in eine tiefe Rezession gezogen hat. Als sie versucht haben, die Gründe dafür aufzuarbeiten, wurde schnell klar, dass nicht nur Korruption und Vertrauensbruch für die Krise verantwortlich waren, sondern auch ein Mangel an Transparenz seitens der Regierung - und die Behinderung der Medien durch restriktive Gesetze. Island ist - aufgrund des Crashs - in der einzigartigen Situation, sich überlegen zu können, in welche Richtung es sich in den kommenden Jahrzehnten bewegen möchte. Das Parlament ist sich dessen bewusst und jeder hat den Willen, diese gescheiterte Gesellschaft zu verbessern. Das IMMI-Projekt ist nur eine der zahlreichen Manifestationen dieses Willens.

ORF.at: IMMI ist ein ziemlich umfangreiches Vorhaben, viele Gesetze müssen angepasst werden. In welchem Stadium befindet sich der Prozess derzeit?

McCarthy: Bisher wurde festgestellt, dass 14 Gesetze geändert werden müssen, um das Projekt IMMI umzusetzen. Anstelle eines einzelnen riesigen Gesetzespakets wird es wahrscheinlich eine Reihe von vielen kleinen Änderungen an den jeweils relevanten Texten geben. Derzeit arbeitet man in den Ministerien an den Gesetzesentwürfen und es sieht so aus, als würden die ersten davon bereits im Herbst vors Parlament kommen. Es kann lange dauern, bis alle Probleme gelöst sind, auch wenn wir annehmen, dass alle politischen Kräfte guten Willens sind. Aber es liegt einfach in der Natur parlamentarischer Abläufe, und es herrscht sicher kein Mangel an Themen, über die debattiert werden muss.

ORF.at: Die Gründer der Whistleblower-Plattform WikiLeaks waren am Entwurf von IMMI beteiligt. Haben die jüngsten Kontroversen über WikiLeaks auch die Debatte über IMMI beeinflusst?

McCarthy: Anscheinend nicht. Obwohl sie eine der Organisationen waren, die beim Entwurf von IMMI mit beraten haben, ist das Projekt vollkommen unabhängig von WikiLeaks. Das gilt auch für die parlamentarischen Aktivitäten, mit denen die Ziele von IMMI erreicht werden sollen. Die Medien hatten offenbar einige Schwierigkeiten dabei, IMMI von WikiLeaks zu unterscheiden, aber die isländischen Volksvertreter haben kein Problem damit. Sie sehen die Idee und deren Unterstützer getrennt. Wenn es überhaupt einen Einfluss der Debatten über WikiLeaks auf die IMMI-Diskussion gegeben hat, dann bestand der darin, dass sie die Notwendigkeit für diese neuen Gesetze unterstrichen haben. Sie haben gezeigt, dass sich die weltweiten Informationsflüsse sehr schnell verändern und dass wir eine tiefgründige Diskussion darüber führen sollten, wie wir damit umgehen sollten - und dass der Gesetzgeber darüber auf dem neuesten Stand sein sollte.

ORF.at: Gibt es unter den Vorschlägen, die in IMMI enthalten sind, solche, die unter den Parlamentariern stärker umstritten sind als andere?

McCarthy: Tatsächlich ist es so, dass das Projekt als solches überhaupt nicht umstritten ist. Es gibt aber eine sehr starke Tendenz, das Gleichgewicht zwischen dem Schutz der Privatsphäre und den Initiativen zur Transparenz vorsichtig auszutarieren. Dass das Projekt an sich nicht in Frage gestellt wird, hat auch damit zu tun, dass es auf einer Reihe von Gesetzen basiert, die sich schon in anderen Ländern seit langem bewährt haben.

EU und Grundrechte

Die EU hat am 7. Juli auf Grundlage des Vertrags von Lissabon mit dem Europarat die langwierigen Verhandlungen über einen Beitritt der Union zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) aufgenommen. Diese ist nicht zu verwechseln mit der Grundrechtecharta der EU, die seit Abschluss des Vertrags von Lissabon zum Primärrecht der Europäischen Union zählt (Ausnahme: Großbritannien und Polen; Opt-out-Möglichkeit für Tschechien). Alle einzelnen Mitgliedsstaaten der EU haben die EMRK bereits ratifiziert.

ORF.at: Island ist derzeit dabei, der Europäischen Union beizutreten. Wird das nicht auch einen Einfluss auf IMMI haben? Schließlich gibt es in der EU auch problematische Gesetze, wie etwa die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung.

McCarthy: Da gibt es definitiv Bedenken. Viele der Gesetze, die wir vorgeschlagen haben, stammen aber aus der EU. Die Richtlinie zur Data Retention (Vorratsdatenspeicherung) ist ein gutes Beispiel für eine Vorschrift, die der näheren Betrachtung nicht standhält. Es ist doch so, dass der Vertrag von Lissabon die EU dazu verpflichtet, die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) einzuhalten - vorher mussten sich nur die einzelnen Mitgliedsstaaten danach richten. Das bedeutet, dass die Vorschriften der EMRK zum Schutz der Privatsphäre nun im Gegensatz zur Richtlinie über die Vorratsdatenspeicherung stehen. So weit ich weiß, wird sich das EU-Parlament im Herbst mit dieser Frage beschäftigen. Generell sehe ich in ganz Europa eine Bewegung hin zu einem vernünftigeren Umgang mit Informations- und Mediengesetzen. Ich glaube, dass sich die EU als solche daran anpassen wird, sodass es keinen größeren Konflikt geben wird, wenn Island der EU beitritt. Übrigens hat Island selbst schon ein Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung, das allerdings sehr restriktiv formuliert ist. Einer der Vorschläge in IMMI läuft darauf hinaus, diese Restriktionen noch enger zu formulieren, und es gibt auch einen Vorschlag dazu, ein Forschungsprojekt zu starten, mit dem herausgefunden werden soll, inwieweit die Vorratsdatenspeicherung überhaupt einen Nutzen gebracht hat.

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(futurezone/Günter Hack)