Eros & Design: William Gibsons "Zero History"
In seinem jüngsten Roman "Zero History" hat William Gibson wieder seine Sonden in den Untergrund des postindustriellen Gesellschaft geschickt, und sie haben Erstaunliches zutage gefördert. Seine Sprache folgt dabei der zentralen Marketingidee des eigenen Protagonisten Hubertus Bigend: Reichtum entsteht durch geschickte Verknappung.
Für Platon war der Eros, wohlverstanden, der Hauptbegleiter und Ermutiger auf dem Weg zur Erkenntnis des Guten und Schönen. Diese pädagogische Funktion des Eros klingt heute noch an, wenn - meistens im ironischen Sinn - von pädagogischem Eros die Rede ist: Damit meint man heute eher den unbezwingbaren Drang, andere zu belehren.
William Gibson, der einstige Science-Fiction-Autor aus Toronto, schreibt seit einigen Jahren Romane, denen die Arbeitshypothese zugrunde liegt, dass das Design als solches die Idee des Schönen und Guten ersetzt, und den Eros für seine Zwecke kooptiert hat. Zusätzlich scheint er immer wieder belegen zu wollen, dass die Installation des Designs als Triebziel - historisch eine sehr junge Entwicklung - gleichzeitig offensichtlich und verborgen ist, und dass diese Gleichzeitigkeit Beiherspielendes eines genuinen Paradigmenwechsels ist. Der jüngste und beste dieser Romane ist Anfang September auf Englisch erschienen und heißt "Zero History".
Zum Autor:
Marcus Hammerschmitt, geboren 1967, ist Schriftsteller und Journalist. Einmal im Monat verfasst er für futurezone.ORF.at einen Bericht zum Zustand der Zukunft. Veröffentlichungen (Auswahl): "Target" (Suhrkamp 1998), "Instant Nirwana" (Aufbau 1999), "Polyplay" (Argument 2002), "Der Fürst der Skorpione" (Sauerländer 2007) und "Yardang" (Sauerländer 2010). Zuletzt erschienen: "Das geflügelte Rad - über die Vernichtung der Eisenbahn" (Oktober-Verlag, 2010).
Besondere Jeans
Es geht um Jeans. Um das scheinbar banalste aller westlichen Kleidungsstücke: hergestellt aus dem ubiquitärsten Stoff (Baumwolle), gefärbt mit einem bekanntermaßen nicht farbechten Pigment (Indigo) - eigentlich ein Ramschartikel, aber mit weltweiter Erfolgsgeschichte. In Wirklichkeit ist die Jeans kulturhistorisch natürlich alles andere als banal, weil nichts, was die Menschheit dauerhaft gebraucht, banal und trivial ist. Aber darum geht es in "Zero History" nicht, sondern um eine ganze spezielle Sorte Jeanskleidung - genau so, wie es in Gibsons "Pattern Recognition" um besondere Rechenmaschinen und Internetvideos geht, und in "Spook Country" um besondere Kunst und einen besonderen Container.
Die Ware ist unter dem Namen "Gabriel Hounds" bekannt, oder kurz "Hounds", obwohl Gibson wie bei anderen seiner fiktionalen Hypercommodities Gewicht darauf legt, dass es sich bei dieser Bezeichnung nicht um einen gewöhnlichen Markennamen handelt, sondern allenfalls um den Spitznamen für einen Mythos. Und ein Mythos sind die "Hounds" fürwahr: Es gibt keine Geschäfte, keine Werbung, keine Website, kein gar nichts, was mit den nur selten hier und da auftretenden, und nur per Barkauf zu erwerbenden Kleidungsstücken zu tun hat. Wer "Hounds" will, findet keine Adressen, keine Second-Hand-Ware, und alles was unter dem Titel auf eBay läuft, ist gefälscht. Man muss jahrelang warten, um dann vielleicht zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein und per Mundpropaganda mitzubekommen, wo es "Hounds"-Material zu kaufen gibt.
Hubertus Bigend
Die logische Folge dieses Brimborium ist nicht nur, dass im Universum von "Zero History" die Hounds-Klamotten zu den begehrtesten Modeartikeln überhaupt gehören, sondern dass sie auch das massive Interesse eines alten Bekannten wecken: das Interesse von Hubertus Bigend, Gründer und Kopf von Blue Ant, jener seltsamen Werbeagentur, die immer da ist, wo vorne ist. Ganz vorne, nicht im Sinne von Coca-Cola- oder IBM-vorne, sondern in dem Sinn, dass man bei Blue Ant so genau wie möglich wissen will, was übermorgen der absolut heiße Scheiß ist.
Bigend hat schon ein bisschen Erfahrung darin, wie man das herausfindet, vor allem hat er das Talent, die richtigen Leute zu finden, die für ihn ihre Nasen in die richtigen Ecken stecken und dabei auch manchmal riskieren. In "Pattern Recognition" war es noch Cayce Pollard, die modebewusste Modeallergikerin, die nach obskuren Internetvideos auf die Suche geschickt wurde. Natürlich gibt es heute die Kleidung, mit der sie im Roman herumläuft, im Netz zu kaufen.
Monströses Marketing
In "Spook Country" wurde Pollard dann durch Hollis Henry ersetzt, die ehemalige Sängerin einer Rockband namens "The Curfew". Bigend wollte angeblich von ihr einen Artikel über locative art, eine hypertechnisierte Kunstform, die mit Erweiterter Realität arbeitet.
Und obwohl die Quests bei Gibsons Bigend-Romanen gerne sehr seltsame Kurven nehmen, hat es sein Lieblingsrisiko-Kapitalist immer schon verstanden, die Entdeckungen seiner Spürhunde in Cashflow zu übersetzen: was Cayce Pollard in "Pattern Recognition" entdeckte, hat ihm zum Beispiel geholfen, bessere Strategien zum Verkauf von hippen Schuhen zu entwickeln und an seine Kunden weiterzugeben. Kein Zweifel, Bigend ist monströs, und er versteht es zusätzlich, seine Monstrositäten interessant aussehen zu lassen. In "Zero History" trägt er gerne einen Anzug in International Klein Blue und sieht darin laut Gibson wie etwas aus, "das auf einem Computerbildschirm schiefgegangen ist."
Ein Auge für Details
Und er will Hounds. Oder noch besser, die Leute, die hinter der Unmarke stehen. Der Grund dafür ist relativ einfach: Bigend ist nicht glücklich darüber, dass jemand mit ähnlich smarten Werbetricks arbeitet wie er selbst, und er will herausfinden, wer ihn da vorführt. Der zweite Grund besteht in der Eigenschaft, die ihn ob ihrer Kindlichkeit fast wie einen Menschen wirken lässt: seine Neugier. Die Unsummen, die Bigend mit seiner Agentur verdient, steckt er zu einem erheblichen Anteil in diese sehr spezielle Neugier:
Dinge über die Popkultur, also unsere gegenwärtige Kultur herauszufinden, die andere nicht einmal in ihren kühnsten Träumen ahnen. Widerstrebend beugt sich Hollis ein zweites Mal dieser Leidenschaft. Milgrim, der Benzodiazepin-Abhängige, den Bigend in "Spook Country" aufgegabelt hat, ist zum Glück auch wieder dabei. Auf Bigends Kosten in einer Baseler Klinik entgiftet und therapiert, bringt er in Ermittlung sein spezielles skill set ein: exzellente Russischkenntnisse, seine wertvolle Unbelecktheit von den Entwicklungen der letzten zehn Jahre, die er im Drogennebel verbrachte, und ein wachsender Sinn für Details, den Bigend an seinen Leuten schätzt wie nichts anderes.
Militär macht Mode
Zu Beginn der Geschichte weiß er bereits ein paar Dinge über Textilien, die Hollis noch nie so gesehen hat; z. B. sind ihm die intimen Beziehungen und Interdependenzen zwischen militärischer und ziviler Kleidung klar, von denen Otto Normalverbraucher nichts ahnt, obwohl er sie täglich in seinem Konsumverhalten reproduziert und bestätigt. Und so gehen beide auf die Jagd nach Hounds. Schnell erweist sich, dass die militärische Komponente an der Sache mehr Bedeutung hat als zunächst angenommen, und auch sonst hat die Suche nach den Hounds einiges an Überraschungen zu bieten.
In seinem neuesten Roman zeigt sich Gibson in Bestform. Wenn man sich einmal fragt, wie er das eigentlich macht, auf welche erzählerischen Tricks er sich hauptsächlich verlässt, dann hilft der vielleicht überraschende Vergleich mit einem anderen bemerkenswerten Beispiel der spekulativen Jetztzeitfiktion: "Infinite Jest" von David Foster Wallace. Bei aller Unterschiedlichkeit haben beide Romane eine Menge gemeinsam. Es geht in beiden um die Phantasmagorien des Genusses, um Sucht und Drogen (Milgrim und Wallaces Hal Incandenza könnten enge Verwandte sein), um die Wichtigkeit des Designs. Wie Wallace die Gründe für das Scheitern der Videotelefonie im Inifnite-Jest-Universum qua Miniessay darlegt, das ist schon sehr nah an Gibson. Anscheinend gilt das noch deutlicher für sein nachgelassenes Romanfragment "The Pale King".
Reichtum durch Verknappung
Am nächsten sind sich die beiden aber in ihren Erzählzielen: Immersion und Präsenz. Und das Schöne daran ist, dass sie einander diametral entgegengesetzte Mittel nutzen, um diese Ziele zu erreichen. Gibson ist ein ungeschlagener Meister der Verknappung. Die extrem trockenen und gleichzeitig sehr lustigen Dialoge zwischen Hollis und ihren ehemaligen Curfew-Kollegen; die immer noch verschobene Wahrnehmung des genesenden Drogenabhängigen Milgrim zeichnet er wie ein herausragender Comic-Künstler nur in wenigen Strichen, weil er weiß, dass sich seine Sparsamkeit auf den Erfahrungsreichtum und die Phantasie des Lesers verlassen kann.
Je sparsamer und genauer Gibson ist, desto intensiver erlebt der Leser die Handlung als seine, denn er liefert fast die ganze Kulisse. Wallace andererseits ist ein Magier der Elaboration: Genauigkeit bedeutet bei ihm nicht Verknappung, sondern Auffächerung aller Aspekte der Situation. Bei dem so geschaffenen Reichtum trotzdem die Ökonomie des Erzählens zu beachten - was zum Beispiel Proust nie geschafft hat - das ist die große Kunst des David Foster Wallace. Und sowohl er als auch der Sparer Gibson erschaffen in Verbindung mit dem Leser, der sich willig narren und führen lässt, Momente kristalliner Vergegenwärtigung, die atemlos machen, weil sie so eminent wahr sind. Wen es nicht erstaunt, dass beide Autoren mit so unterschiedlichen Mitteln das Gleiche erreichen, dem kann ich nicht helfen. Ich hoffe nur, dass "Zero History" die aufmerksamen Leser findet, die es verdient.
(Marcus Hammerschmitt)