© AP/Mark Lennihan, Das Spiel Tetris auf dem Gameboy

Game Boy "Tetris": Die Revolution des Spielens

GAME CHANGERS
11.09.2010

Es gibt Games, die verändern eine ganze Industrie, und dann unsere Sichtweisen - wie "Tetris" für den Game Boy, das auch notorische Nichtspieler zu Spielern und die tragbare Spielkonsole zum Popkulturphänomen machte. Anatol Locker lässt Spiel und Konsole Revue passieren.

Ja, auch der Autor dieser Zeilen besaß einen. Sogar eines der ersten Geräte, zum Japan-Start am 21. April 1989 beim Importeur vorbestellt und zehn Wochen vor dem offiziellen Europastart 1990 endlich beim Zoll freigekämpft.

Zur Person:

Anatol Locker schlug sich schon früh im Leben mit Rechengeräten wie dem CBM 3032, dem Sinclair ZX81 und dem C64 herum. Er arbeitet seit 1984 als Journalist zum Thema Computerspiele. Für futurezone.ORF.at schreibt er die Serie "Game Changers" über Spiele, die die Industrie verändert haben.

Die Serie wird unter folgender Adresse gesammelt:

Der Game Boy war nicht die einzige tragbare Spielkonsole der frühen Neunziger, aber die erste, die funktionierte. Ataris "Lynx" besaß einen Farbbildschirm und bestach mit exzellenten Titeln wie Shanghai, Klax oder Chip´s Challenge. Auch Segas "Game Gear" war dem Game Boy in vielerlei Hinsicht überlegen: 32-Farben-Display, guter Soundchip und Titel wie Sonic, Shining Force und Shinobi. Allerdings saugten beide in zwei Stunden sechs Batterien leer.

Volkswagen des mobilen Spiels

In ihrer technischen Unterlegenheit mutierte Nintendos 8-Bit-Konsole zum Volkswagen des mobilen Spielens: Nichts Besonderes, omnipräsent, zuverlässig … aber irgendwie spaßig. Das Gerät war so groß und so dick wie ein Taschenbuch; klassisch, aber übersichtlich designt; das Vier-Graustufen-Display besaß die Ausmaße einer Sonderbriefmarke.

Leider verschwand manchmal eine ganze Zeile des Bildschirms, eine Art prähistorischer Pixelfehler. Aber - und das war sein großer Trumpf - die Batterien hielten sechs Stunden. Manchmal war sogar das nicht genug. Dann mopste man zwei Batterien aus der Fernbedienung, zwei aus dem Radiowecker und spielte weiter.

Beigelegte Batterien als Erfolgsgarant

Erfunden hatte die Minikiste ein 45-köpfiges Team um Gunpei Yokoi aus Nintendos Forschungs- und Entwicklungsabteilung in Kyoto. Hiroshi Yamauchi, der damalige Präsident des Unternehmens, rechnete damit, 25 Millionen Exemplare der mausgrauen Konsole verkaufen zu können. Eine völlige Fehleinschätzung: Bis heute gingen Game Boy und seine Nachfolgemodelle weltweit rund 120 Millionen Mal über die Ladentische; mehr als 1.500 Spiele sind allein für den Klassiker erschienen. Alle großen Spielehersteller lieferten Software, darunter Capcom, Electronic Arts, Infogrames, Konami, Sony, Square, Taito und viele andere.

Nintendo hatte für seine Game-Boy-Vermarktung zwei geniale Ideen. Der erste clevere Schachzug bestand darin, ihm vier Batterien beizulegen. Weil Eltern regelmäßig vergaßen, Batterien für neue elektronische Spielzeuge zu besorgen, saßen unzählige Kinder mit langen Gesichtern unterm Weihnachtsbaum und verfluchten die nicht enden wollenden Feiertage. Frisch gebackene Nintendo-Besitzer konnten dagegen gleich loslegen. Das erste Modul, das in den Schacht wanderte, war "Tetris", das dem Gerät beilag. Es war das Spielmodul, das den Erfolg des Systems befeuerte. Das Benzin zum Volkswagen, sozusagen.

Game Changer „Tetris“

Eines der besten Paschitnow-Spiele ist Hexic. Nicht ganz so unmittelbar wie "Tetris", aber ebenso süchtig machend.

Blockfall: eine kostenlose "Tetris"-Erweiterung für den Firefox-Browser

Lumines - eine kluge Weiterentwicklung des "Tetris"-Spielprinzips: Hier stapelt der Spieler im Rhythmus der Musik. (Für PSP, PS2, Xbox 360, Playstation Network und PC. Preis: ab 35 Euro.)

Lizenzkrimi hinterm Eisernen Vorhang

"Tetris" war eigentlich ein alter Hut. Das Spiel war die Idee des russischen Mathematiker Alexeji Leonidowitsch Paschitnow. Er arbeitete an der Moskauer Akademie der Wissenschaften und wollte das russische Brettspiel "Pentamino" umsetzen. Zusammen mit seinem Studenten Wadim Gerassimow programmierte er "Tetris" für den russischen Elektronika-60-Rechner. Paschitnow benannte das Spiel nach dem griechischen Wort für vier ("tetra") und "Tennis". Paschitnow gab das Spiel seinen Kollegen, die es munter kopierten und verteilten. "'Tetris' verbreitete sich wie ein Flächenbrand", erklärte Paschitnow im Interview mit dem Spielemagazin Power Play, "wo wir auch hinkamen, wurde es gespielt."

1985 wurde der Geschäftsmann Robert Stein in Ungarn auf das Spiel aufmerksam. Er fragte bei der Akademie der Wissenschaften für seinen Kunden Mirrorsoft nach, ob er eine PC-Version programmieren könne. Die Akademie reagierte erst desinteressiert, willigte dann aber formlos in ein Lizenzgeschäft ein. Prompt wurde die "Tetris"-PC-Version zum Riesenerfolg für Mirrorsoft.

Extra-Magie

Stein wandte sich als Nächstes an Atari, um ihnen die Videospiellizenz zu verkaufen, die er allerdings nicht besaß. Denn inzwischen hatte sich das Staatsministerium Elorg in die Verhandlungen eingeschaltet. Plötzlich sah sich Stein bei den Verhandlungen mit Vorwürfen konfrontiert: Mirrorsoft, die Firma des Industriellen Robert Maxwell, hatte noch keine Tantiemen bezahlt, außerdem trat Maxwells Sohn Kevin bei den Verhandlungen höchst arrogant auf. Elorg behauptete nun, die Rechte nie offiziell vergeben zu haben. Stattdessen gab man Nintendo den Zuschlag. Atari musste Hunderttausende "Tetris"-Module einstampfen - was den Niedergang der Firma enorm beschleunigte.

Nintendo ergänzte "Tetris" durch einen Zweispielermodus per Linkkabel und legte es dem Game Boy bei. Die Kombination zündete: "Tetris" hatte diese Portion Extra-Magie, die dem Spieler höchste Konzentration abverlangte, ihn nie unterforderte. Nie gab es eine bessere "Tetris"-Version.

Spielen wird Pop

"Tetris" war simpel und machte süchtig wie Crack. Und man konnte es spielen, wo man wollte. Sogar Erwachsene waren plötzlich "angefixt". Mit der Kombination Game Boy/"Tetris" konnte man notorische Nichtspieler wie Freundinnen oder Eltern bekehren. Nicht nur Kinder liebten ihn, auch Erwachsene verdaddelten Zeit in Pendlerzügen oder auf Transatlantikflügen. Wer nach stundenlangem Spielen die Augen schloss, sah Klötzchen fallen; im fortgeschrittenen Stadium stapelte man gedanklich in der U-Bahn die Fahrgäste.

Plötzlich war der Game Boy kein Freakspielzeug, sondern ein Popkulturphänomen. Ein weiterer Grund des Erfolgs war Ex-Mattel-Chef von Stahl, den Nintendo als Europachef verpflichtet hatte. Er verordnete dem Spielegerät die erste große Videospiel-Werbekampagne, die sich nicht ans Fachpublikum richtete.

Was 1989 noch passierte

Die erste Casual-Games-Schwemme

Damit stand die Videospielebranche vor neuen Herausforderungen, die sie nur halbherzig löste. Komplexe Spieleinhalte, wie man sie von Heimcomputern kannte, funktionierten auf dem Game Boy nicht. Auch technisch hinkte das System hinterher. Ergo erschien eine Schwemme von Geschicklichkeits-, Denk- und Tüftelspielen. Schon nach einem Jahr war der Markt mit kleinen, doofen Minigames überschwemmt.

Doch nicht alle Titel waren Dutzendware: In "Super Mario Land" dudelte die coolste Musik, die je in einem Videospiel zu hören war. Spielerisch ist das Modul noch heute ein Ass. „Gargoyles Quest“ wischte mit "Castlevania" den Boden auf. Stunden konnte man auch vor "Zelda: Links Awakening", "Metroid 2: Return of Samus", "Super Mario Land 2: 6 Golden Coins" und "Dr. Mario" verbringen.

Cashcow und Dauerbrenner

Nintendo ließ das Gerät so lange unverändert, wie es nur irgend ging: Mit dem Game Boy hatte man eine Cashcow gefunden, die wurde nun kräftig gemolken. Als die Spieler meuterten, weil nur noch grottige Games erschienen, zog Nintendo die Software-Trumpfkarte und veröffentlichte das Rollenspiel "Pocket Monsters", besser bekannt als "Pokemon". Das Monsterspiel wurde zum Monsterseller. Erst 2001 brachte Nintendo den „Game Boy Advance“. Er brachte die ersehnte technische Auffrischung sowie ein Farbdisplay. Das Design der ersten Modelle war zwar entsetzlich - ein durchsichtiges lila Plastikgehäuse -, aber die Fans ertrugen auch das stoisch.

Den Erfolg des Advance erlebte Gunpei Yokoi nicht mehr. Er wurde von einem Wagen erfasst, als er nach einem Auffahrunfall auf einer japanischen Schnellstraße das Auto seines Kollegen verließ. Er hatte Nintendo mit dem „Virtual Boy“ einen veritablen Flop beschert und war aus der Firma ausgeschieden. Doch für den Game Boy und die Spieleserien "Donkey Kong", "Fire Emblem" und "Metroid" verehren ihn Spielefreaks noch heute.

(Anatol Locker)