© Fotolia/SVLuma, Fußgänger und Autos

Stadtforschung mit Echtzeitdaten

MOBILITÄT
23.09.2010

Das Senseable City Lab am Massachussets Institute of Technology (MIT) erforscht mit Echtzeitdaten aus Mobilfunknetzen und der Onlinekommunikation die Zukunft von Städten. ORF.at hat mit Carlo Ratti, dem Gründer des Forschungslabors, über digitale Datenberge und ihren Nutzen für die Wissenschaft gesprochen.

"Wir beschäftigen uns damit, wie neue Technologien unser Verständnis von Städten und unser Leben im urbanen Raum verändern, und versuchen Lösungen für die Zukunft zu entwickeln", sagte der Gründer des Senseable City Labs, Carlo Ratti.

Als Rohmaterial dienen dem 35-köpfigen Team des Forschungslabors, das sich aus Designern, Architekten, Physikern, Soziologen und Mathematikern zusammensetzt und auch eine Niederlassung in Singapur unterhält, unter anderem Echtzeitdaten aus Mobilfunknetzen und der Onlinekommunikation. Mit dem Datenmaterial werden etwa Echtzeitkarten von Städten erstellt, auf denen sich Bewegungsmuster ihrer Bewohner nachvollziehen lassen.

"Diese Daten ermöglichen es uns, menschliches Verhalten, menschliche Interaktion und Gesetzmäßigkeiten der Mobilität besser zu verstehen", erläuterte Ratti. Anfang September war Ratti beim Symposium Open Source Life auf der Ars Electronica zu Gast, wo er unter anderem das Projekt "Trash Track" präsentierte, bei dem der Müll von Hunderten Leuten mit Sensoren versehen und quer durch die Entsorgungskette verfolgt wird. ORF.at hat Ratti in Linz zu seiner Arbeit im Senseable City Lab befragt.

ORF.at: Sie verwenden Echtzeitdaten aus Mobilfunknetzen und anderen Quellen, um Mobilität und soziale Verbindungen in Städten zu erforschen. Welche Erkenntnisse lassen sich aus diesen Daten gewinnen?

Ratti: Wir leben in einer sehr interessanten Zeit. Denken Sie nur an die Sozialwissenschaft. Die konnte sehr lange nur auf verhältnismäßig wenige Daten zurückgreifen. Eine der unerwarteten Folgen der digitalen Revolution ist es aber, dass wir überall unsere Spuren hinterlassen. Sie könnten etwa mein Leben während der vergangenen Woche fast lückenlos nachvollziehen, wenn Sie meine digitalen Transaktionen verfolgen. Wir haben einen riesigen Datenberg vor uns, der einerseits eine Gefahr darstellt, andererseits aber auch ein großes Potenzial in sich birgt. Diese Daten sind eine Gefahr, weil wir erst lernen müssen, wie wir mit ihnen umgehen. Wir müssen sicherstellen, dass das nicht auf eine Art und Weise geschieht, die wir nicht wollen. Andererseits sehe ich ein großes Potenzial. Denn diese Daten ermöglichen es uns, menschliches Verhalten, menschliche Interaktion und Gesetzmäßigkeiten der Mobilität besser zu verstehen. Ich glaube fest daran, dass wir in den nächsten beiden Jahrzehnten eine Reihe neuer Erkenntnisse in Bezug auf Städte und unser Leben in den Städten aus diesen Daten gewinnen werden.

ORF.at: Wie verändern neue Technologien unser Verständnis und unser Leben in den Städten?

Ratti: Auf sehr vielfältige Art und Weise. Die Daten ermöglichen uns ein besseres Verständnis von Mobilität und Bewegung in der Stadt. Wenn Sie in der Stadtplanung tätig sind, können Sie diese Erkenntnisse direkt in ihre Arbeit einfließen lassen. Die Fähigkeit, in Echtzeit Informationen auszutauschen und uns zu koordinieren, hat auch unser Leben in der Stadt radikal verändert. Allein das Mobiltelefon hat die Art, wie wir Freunde treffen und wie wir uns organisieren, um gegen oder für etwas zu demonstrieren, grundlegend neu gestaltet.

ORF.at: Diese Technologien und die riesigen verfügbaren Datenmengen haben auch Implikationen für die Privatsphäre.

Ratti: Wir müssen uns natürlich die Frage stellen, wie wir mit diesen Daten umgehen. Sie sind nun einmal da und werden auch genutzt. Ihr Mobilfunkanbieter weiß, wo sie sind. Ihre Bank und Ihr Kreditkartenanbieter wissen, wo sie Geld abgehoben oder ausgegeben haben. Alle diese Informationen sind vorhanden und in verschiedenen Datenbanken gespeichert. Für die Menschheit ist das eine radikal neue Erfahrung. Am M.I.T. haben wir im vergangenen Jahr ein Forum ins Leben gerufen, das sich mit diesen Fragen auseinandersetzt. Wie analysieren wir diese Daten? Welche Prinzipien kommen dabei zur Anwendung? Im Rahmen der Initiative "Engaging Data" versuchen wir Richtlinien zu formulieren, wie wir diese Daten für die Forschung nutzen können. Das ist eine grundlegende Frage.

ORF.at: Eine zentrale Frage ist auch, wer auf diese Daten zugreifen kann. Sie haben in Singapur mit "LIVE Singapore!" ein Projekt gestartet, das diese Daten über eine offene Plattform zugänglich macht und es erlaubt, auf Basis dieser Daten Applikationen zu programmieren.

Ratti: Wir glauben, dass es das Beste ist, diese Daten offen zugänglich zu machen und sie mit der Öffentlichkeit zu teilen. Das Projekt befindet sich noch im Aufbau. Derzeit sammeln wir verschiedene Daten, etwa Verkehrs-und Mobilfunkdaten, und führen sie auf der Plattform zusammen. Die Plattform soll offen sein und Leuten auch die Möglichkeiten bieten, ihre Daten zugänglich zu machen. Jeder soll selbst entscheiden, ob er seine Daten mit anderen teilen will. Erste Ergebnisse werden wir wohl in einem Jahr sehen.

Mehr zum Thema:

ORF.at: Mit Geodaten versehene nutzergenerierte Inhalte erleben derzeit einen Boom. Wie arbeiten Sie mit diesen Inhalten?

Ratti: Nutzergenerierte Inhalte sind sehr interessant. Die Leute wollen Informationen mit anderen Leuten teilen. Wir beschäftigen uns in einer Reihe von Projekten damit. Vergangenes Jahr haben wir etwa im Designmuseum in Barcelona die Ausstellung gemacht. Dabei haben wir Fotos von Touristen aus Spanien gesammelt, die auf der Fotosharing-Plattform Flickr veröffentlicht wurden. Anhand dieser Fotos kann man etwa sehen, wie sich die Farben des Landes im Verlauf eines Jahres verändern, wie sich die Trockenheit im Land ausbreitet. Die Ausstellung trug den Titel "Los Ojos Del Mundo" - was so viel heißt wie "Die Augen der Welt". Wir haben uns in gewisser Weise die Augen der Leute geborgt, um die Landschaft zu beschreiben. Diese nutzergenerierten Inhalte können für die Sozialwissenschaft sehr wichtig sein und helfen uns dabei, Orte besser zu verstehen.

ORF.at: Mit dem Projekt "Trash Track" verfolgen Sie die Entsorgungskette von Müll.

Ratti: Bei "Trash Track" versehen wir Müll mit Smart Tags, um seinen Weg durch das Entsorgungssystem verfolgen zu können. Wir haben das in Seattle, New York und London gemacht. Damit wollen wir mithelfen, die Entsorgungskette von Müll zu optimieren. Die Tags mussten wir selbst entwerfen, eine fertige Lösung dafür gab es nicht. GPS kam wegen der Transportfahrzeuge nicht infrage. Innerhalb eines Lasters funktioniert es nicht. Wir haben deshalb mit Mobilfunkortung gearbeitet und rund 3.000 weggeworfene Objekte verfolgt.

ORF.at: Welche Erfahrungen haben Sie mit dem Projekt gemacht?

Ratti: Wir waren überrascht, in welchem Ausmaß Leute von Müll fasziniert sind. Wir haben die Bevölkerung um Mithilfe gebeten. Es haben sich mehrere Hundert Leute gemeldet, die daran interessiert waren, dass der Weg, den ihr Müll nimmt, verfolgt wird. Wir werfen viele Dinge weg und gehen davon aus, dass sie verschwinden. Das ist aber nicht der Fall. Diese Dinge sind nach wie vor vorhanden. "Trash Track" hat auch viele Möglichkeiten aufgezeigt, die Müllentsorgung zu optimieren. Die Entsorgung und Wiederverwertung von Müll ist ein komplexes System, das in seiner Gesamtheit schwer zu erfassen ist. Darin sind viele Leute und Unternehmen involviert. Selbst großen Müllverwertungsunternehmen fehlt oft der Überblick über die Wege, die der Müll nimmt. Deshalb waren sie auch daran interessiert, mit uns zusammenzuarbeiten. Das Wissen über die globalen Zusammenhänge macht es möglich, den Müll effizienter zu entsorgen.

Mehr zur Ars Electronica 2010

ORF.at: Ein weiteres Projekt des Senseable City Labs ist das "Copenhagen Wheel", das Fahrräder durch den Austausch des Hinterrads zu hybriden elektronischen Fahrrädern macht und sie gleichzeitig mit Sensoren versieht, die den Zustand der Straße und andere Daten speichern und an andere weiterleiten. Sieht so die Zukunft der Mobilität in der Stadt aus?

Ratti: Das "Copenhagen Wheel" ist ein Hinterrad, das Sie mit fast jedem Fahrrad verwenden können. Es speichert die Energie, die durch das Fahren entsteht und erlaubt es Ihnen, sie dann einzusetzen, wenn sie gebraucht wird. Daneben verfügt das Rad auch über Sensoren. Wir haben das Projekt gemeinsam mit der Stadt Kopenhagen entwickelt. Das "Copenhagen Wheel" ist aber nur ein Beispiel, wie die Zukunft der Mobilität in der Stadt aussehen könnte. Es ist heute fast unmöglich, die Infrastruktur in Städten zu ändern. Dazu ist der Spielraum zu klein. In New York ist es etwa unmöglich, die Straßen breiter zu machen. Die Infrastruktur hat ihre Grenzen erreicht. Die einzige Möglichkeit, wie wir damit umgehen können, ist es, diese Infrastruktur effizienter zu nutzen. Sensoren können uns dabei helfen. Im Fall des "Copenhagen Wheel" wissen Sie, welche Routen von anderen Radfahrern genutzt werden und bekommen Informationen über die Umgebung. Sie können so die vorhandene Infrastruktur besser nutzen. Die Infrastruktur kann sich so auch den Bedürfnissen ihrer Nutzer besser anpassen.

Mehr zum Thema:

(futurezone/Patrick Dax)