Europa und die Bürgerrechte im Netz
Förderung des Breitbandausbaus einerseits, ACTA, Gallo-Bericht, Internetsperren andererseits: Die Europäische Union hat nach wie vor ein gespaltenes Verhältnis zum Netz. Die letzten Entwicklungen zu den Themen Informationsfreiheit, Datenschutz, Urheber- und Bürgerrechten. Ein stark geraffter Ausblick auf die nächsten Monate.
Mehr zum Gallo-Report
Es handelt sich zwar um den jüngsten Anlauf, das "Internet unter Kontrolle" zu bringen, aber als erster schlagend wird er sicher nicht. Gemeint ist der vergangene Woche vom EU-Parlament verabschiedete Bericht der Abgeordneten Marielle Gallo (EVP), mit dem versucht wird, die im Ministerrat steckengebliebene Richtlinie zur strafrechtlichen Verfolgung von Urheberrechtsverletzungen wieder in Fahrt zu bringen.
Zum einen hat der Gallo-Report mit 328:245 bei 85 Enthaltungen keine signifikante Mehrheit erreicht, und außerdem ist es keine Richtlinie, sondern ein Bericht, welcher der Kommission ein Mandat erteilt, eine neue Initiative zu ergreifen. Die muss wiederum mehrheitlich durch das EU-Parlament und mit dem Ministerrat akkordiert sein.
Wenn man dazuzählt, dass sich mehrere EU-Staaten im Ministerrat gegen dieses - mit durchaus vernünftigen Maßnahmen garnierte - Vorhaben für Abmahnungen und Internetsperren ausgesprochen hatten, dann ist nicht damit zu rechnen, dass eine diesbezügliche Richtlinie so schnell beschlossen wird.
ACTA
EU-Handelskommissar Karel de Gucht hatte zuletzt betont, dass sich durch das Anti-Counterfeiting Trade Agreement (ACTA) das EU-Recht nicht ändern werde,
ACTA
Anders verhält es sich mit dem "Antipiraterieabkommen" ACTA. Hier hat kein Parlament irgendein direktes Mitspracherecht, denn dieses ominöse Gremium wurde extra gegründet, weil die bei ACTA federführenden Staaten USA, Japan, Großbritannien und Frankreich im Rahmen des TRIPS-Abkommens dort jahrelang keine Mehrheit für dieses Vorhaben gefunden hatten.
Deshalb wurde der Text des 2007 gestarteten Abkommens von den Beteiligten bis zuletzt geheimgehalten, auch wenn sich in der letzten Zeit die Lecks gehäuft hatten. Das Abkommen soll noch in diesem Jahr beschlossen werden, die möglicherweise letzte Verhandlungsrunde läuft derzeit in Japan.
Wie volatil die Mehrheiten in diesem Dunstkreis von Trademarks, Copyrights und Partikularinteressen der Unterhaltungsindustrie sind, zeigte ?ich am Beispiel einer Initiative von MEPs aller vier großen Fraktionen (Konservative , Sozialdemokraten, Liberale, Grüne) aus der ersten Septemberwoche.
Hier setzte eine Mehrheit der MEPS ihre Unterschriften unter eine Resolution, die festhielt, dass ACTA keine indirekten Auswirkungen auf Regelungen geistigen Eigentums in der EU haben sollte. Die Bürgerrechte sollten ebensowenig durch ACTA angetastet werden, wie die Provider nicht für die Inhalte in ihren Netzen verantwortlich gemacht werden könnten.
Data-Retention
Was die anstehenden Ergebnisse der Evaluation der EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung (Data-Retention) anbelangt, so ist vorerst ebenfalls nichts direkt Richtungweisendes zu erwarten.
"Diese Richtlinie, die wir alle nicht besonders lieben, kann man durchaus auch grundrechtskonform umsetzen, wenn man die Urteile aus Deutschland und Rumänien einbezieht und den Handlungsspielraum ausreizt", meinte der Kabinettchef von EU-Justizkommissarin Viviane Reding vor einer Woche.
Übersetzt heißt das: Wenn schon die Verfassungsrichter in Deutschland und Rumänien die Umsetzung in das jeweilige nationale Recht für verfassungswidrig erklärt haben, dann sollte das auch anderswo bei der Gesetzgebung ins Kalkül einbezogen werden.
Auch Redings Kollegin Cecilia Malmström (Inneres) zeigte sich in dieser Frage sehr aufgeschlossen.
Nichtharmonisierung
Was die "Ungeliebtheit" betrifft, so ist es nur natürlich, dass die Kommissarin für Justiz mit dieser Richtlinie, die 2006 erklärtermaßen im Rahmen der "Binnenmarkt-Harmonisierung" verabschiedet wurde, nicht recht glücklich ist. Statt Rechtsharmonie zu erreichen, wurde seit 2006 ein europäischer Fleckerlteppich produziert.
Von London bis Sofia und von Riga bis Zypern gibt es völlig unterschiedliche Fristen für die Speicherung der Bewegungs- und Kommunikationsdaten europäischer Bürger. In mehreren EU-Mitgliedsstaaten existieren überhaupt noch keine diesbezüglichen Gesetze, wie zum Beispiel in Schweden oder Österreich.
In der Schweiz wurde die verpflichtende Speicherung von Telefonie- Internet- und Bewegungsdaten nach französischem Vorbild übrigens bereits 2002 eingeführt. Das allererste nationale Gesetz zur "Vorratsdatenspeicherung" wiederum stammt aus Frankreich (2000/1), vom schwedischen Justizminister kam etwa zeitgleich (Frühjahr 2001) der erste Vorstoß im EU-Ministerrat, "Data-Retention" verpflichtend EU-weit einzuführen.
EU-Vertragsverletzungen
In Schweden wurde - nach einem Regierungswechsel - ein entsprechendes Gesetz bis jetzt nicht verwirklicht, weshalb gegen Schweden wie Österreich ein diesbezügliches EU-Vertragsverletzungsverfahren läuft.
Irland wiederum war ab 2001 mit Schweden, Großbritannien und Frankreich treibende Kraft hinter der "Vorratsdatenspeicherung", damals hatte die irische Regierung drei Jahre Speicherfrist gefordert. Jetzt wartet die EU-Kommission darauf, dass der Europäische Gerichtshof über eine Art von Feststellungsklage des irischen Höchstgerichts entscheidet, ob die "Vorratsdatenspeicherung" generell nicht gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstößt.
Die schwedische EU-Kommissarin für innere Angelegenheiten, Cecilia Malmström, wiederum hat sich für die Einführung von "Internetsperren" gegen "Kinderpornografie" ausgesprochen. Diese Maßnahme war in Deutschland außer Kraft gesetzt worden, bevor das Gesetz nach einem Regierungswechsel Gültigkeit bekam.
Am ebenfalls im Herbst zur Neuverhandlung anstehenden Abkommen zur Übermittlung der Flugpassagierdaten an die USA - auch dafür ist Malmström zuständig - wird sich zeigen, welchen Stellenwert die EU dem Persönlichkeitsschutz der EU-Bürger in Zukunft zubilligen wird.
(futurezone/Erich Moechel)