Steinreich und hirntot im Internet
Mark Pesce - Internet-Visionär und Apokalyptiker - sieht unser Ende nahen. Nein, nicht Y2K wird uns das Leben kosten, sondern die Omnipräsenz des Internet. Seine These: Neue Medien überschwemmen uns mit zu viel Information und löschen damit unser Selbst aus. Das Resultat sind übervolle Hirne und leere Seelen.
Mark Pesce:
"Das große Projekt der Zivilisation am Beginn des 3. Jahrtausends ist es, in Dich einzudringen und Dich auszuleeren und durch sich selbst zu ersetzen. Das ist nicht notwendigerweise böse gemeint, es scheint einfach eine Funktion von Kultur zu sein. Genauso wie die Verschmutzung der Erde nicht absichtlich böse ist, sondern ein Nebenprodukt der Industrialisierung. Und das passiert, weil wir darüber nicht nachdenken. Wir fragen uns nicht, ob sich vielleicht in unserem Selbst mittlerweile genauso viel Müll angesammelt hat wie in der Welt draußen."
Pesces Rhetorik ist voller Anspielungen auf den Krieg. In seiner Philosophie kämpft die Menschheit gegen das Netz, die Gesellschaft gegen den Einzelnen und die Zivilisation gegen sich selbst. Er selbst möchte seine Rhetorik als "martialisch, nicht militärisch" verstanden wissen. Gegen den Krieg zwischen unserer Psyche und der Welt der Information hilft seiner Meinung nach nur Aufrüsten: "Ich glaube, wir müssen eine starke Verteidigung des Selbst aufbauen, damit wir auf all das vorbereitet sind, zu dem sich das Selbst in Zukunft entwickeln könnte."
Daheim bei Mark
Mark Pesce war an der Entwicklung der Virtual Reality Modelling
Language (VRML)beteiligt. VRML ermöglicht das Betrachten
dreidimensionaler Objekte über das Internet. Marks Homepage bietet
neben jeder Menge VRML-Links auch Einblick in seine andere
Leidenschaft: der Eschatologie, der Lehre vom Ende der Welt.
Pesces ist im Brotberuf Wissenschafter und Software-Designer. Seine Brötchengeber sind die University of Southern California und das US-Militär. Dort ist er verantwortlich für die Entwicklung interaktiver Trainingssoftware für Soldaten: Auch seine eigene Arbeit sieht Pesce als potenzielle Bedrohung für die Menschheit.
"Wir sprechen hier über eine extrem mächtige Technologie, die zu einer ebenso mächtigen Manipulation des menschlichen Geistes verwendet wird, um ein ganz spezielles Ergebnis zu erzielen. Das ist, denke ich, nur die erste Version einer Vielzahl von Anwendungen, die wir in diesem Bereich erleben werden."
Einige dieser Anwendungen wird der Realist Pesce mitentwickeln, damit der Visionär Pesce uns davor warnen kann. Mark Pesce steht damit an vorderster Front der Technologien, die er so heftig kritisiert. Er sieht sich selbst als Aufklärer, nicht als Maschinenstürmer.
Pesce auf der scope
Mark Pesce war Ende September in Wien, um einen Vortrag auf der
"scope 99 - information vs. meaning" zu halten. Der Text des
Vortrags befindet sich auf der scope-Website.
Für Pesce ist das Web die verführerischste Technologie, die das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat. Der Grund dafür ist, dass das Web die USA buchstäblich mitten ins Herz getroffen habe, denn das sitzt, so Pesce, bekanntlich in der Geldbörse. "Das Web ist zum Motor des Geldes geworden, es generiert Geld, es hilft uns schnell reich zu werden. Du kannst gar nicht anders, als es zu lieben. Du kannst nicht umhin, von ihm verführt zu werden."
Ein bisschen naiv würde das für europäische Ohren schon klingen, gibt Pesce zu. Aber man müsse ihm eben verzeihen, da er aus einer Kultur komme, die nicht notwendigerweise den gleichen Tiefgang hat wie die europäische und deshalb auch anfälliger für Medien-Viren a la Internet sei.
Marks Mitstreiter
Technorealism nennt sich die Bewegung in den USA, die davor
warnt, dass übermäßiger E-Mail-Konsum unsere Gesundheit gefährden
kann. Ziel der Technorealisten ist die kritische Betrachtung alter
und neuer Technologien. Dazu schreiben sie Bücher, Artikel und -
betreuen eine Website.